Mit Samba gegen den Untergang

Warten auf ein kleines Wunder: Mit dem Programm „Perpetuum Varieté“ signalisiert das von Existenzsorgen bedrohte Varieté Chamäleon seinen Überlebenswillen. Nach zwölf Jahren ohne Subventionen, zu viel Hitze und Artistenpech scheint nur noch Zaubern helfen zu können

In der Krise wird mancher hysterisch. Womöglich treibt ja die drohende Pleite des Varietés Chamäleon den blonden jungen Mann dazu, jede noch so belanglose Aktion auf der Bühne mit wahlweise kreischendem Gegacker, donnerndem Applaus oder euphorischen Bravorufen zu begleiten. Der Rest der Publikums verhält sich anlässlich der Premiere von „Perpetuum Varieté“ dagegen vergleichsweise gesittet.

Dabei haben die versammelten Freunde des Chamäleons guten Grund, die nervöse Anspannung des einsamen Rufers zu teilen. Hat doch das Varieté am Hackeschen Markt im Juni Insolvenz angemeldet und für den Sommer übergangsweise erst einmal ein „Notprogramm“ projektiert. Momentan steht man unter „vorläufiger Verwaltung“. Während man den Spielbetrieb aufrechterhält, wird getüftelt, wie es weitergehen kann, oder besser: ob es überhaupt weitergehen kann. Der Vorverkauf läuft auf jeden Fall noch bis Ende August, danach soll das Chamäleon mit verändertem Konzept einen Neuanfang wagen.

Nach 12 Jahren ohne Subventionen, ohne einen potenten Veranstaltungskonzern im Rücken ließen die Rekordtemperaturen des Juni die Auslastung so in den Keller sinken, dass die Pleite drohte. Im Jahre 2000 lief das Geschäft noch so gut, dass man eine Dependance im Wedding, den „Glaskasten“, eröffnete.

Nicht einmal ein Jahr später war der „Glaskasten“ wieder zu, und drei Jahre später ist die finanzielle Decke nun so dünn, dass ein einziger schlechter Monat genügte, die Existenz zu bedrohen. Noch hat man allerdings nicht den Eindruck, die Stadt wäre allzu erschrocken über das drohende Ableben des Chamäleons, auch wenn sofort eine Quasidemo auf dem Breitscheidplatz mit Schirmherrin Meret Becker und anderen Künstlern initiiert wurde und sich zur Premiere immerhin Promis wie Lea Rosh und Volker Beck sehen ließen.

Aber wie das so ist, wenn man schon kein Glück hat, kommt auch noch Pech hinzu: Das ursprünglich für die Sommermonate vorgesehene Programm „Schwarzweiß“ musste wegen krankheitsbedingter Ausfälle kurz vor der Premiere abgesagt werden. Stattdessen organisierte Chamäleon-Mitbegründer Hacki Ginda kurzfristig das Ersatzprogramm „Perpetuum Varieté“, eine von Hacki Gindas clownesken Moderationen notdürftig zusammengehaltene Nummernrevue, die schon im Titel den Überlebenswillen des Theaters signalisiert. Nun tummeln sich auf der Bühne vorwiegend Künstler, die dem Chamäleon schon lange Jahre verbunden sind, wie die professionelle Schreckschraube Virgin oder Sammy Tavalis, dessen Auftritt als 1-Mann-Samba-Orchester zu den Höhepunkten gehört: Wenn er sich schließlich das Beinkleid von den Schenkeln reißt und die Rassel per Beckenkonvulsion bedient, tobt das Publikum, dass man selbst den jungen blonden Mann nicht mehr heraushören kann.

Andächtige Stille dagegen, wenn sich Meike Silja Rupprecht hoch über den Köpfen am Trapez windet oder Susie Cute sich um das Seil schlingt. Jochen Schell jongliert, Klaus Loch macht Pantomime, das Walhalla Orchester musiziert, aber den Großteil des männlichen Publikums schließlich treibt Tigris in den Wahnsinn – im knappen Matrosen-Outfit mit Hula-Hoop-Reifen und vor allem mit seinem entblößten Oberkörper.

Die heterogene All-Star-Truppe garantiert einen steten Wechsel zwischen eher poetischen Momenten und unversehen zotigen Ausfällen, für die meistens der Initiator Hacki Ginda verantwortlich zeichnet, der das aber mit leicht durchschaubaren Zaubertricks wieder ausgleicht. Er selbst nennt das Programm im Vorfeld eine „artistisch-komödiantische Wundertüte“.

Und wie sich das mit Wundertüten so verhält: Alles kann drin sein, natürlich auch immer wieder mal etwas, was nicht unbedingt Not getan hätte. So fällt das Programm nach der Pause doch etwas ab. Dafür aber birgt jede Wundertüte zumindest das Versprechen eines Wunders, und zumindest ein kleines Wunder, das könnte das Chamäleon Varieté momentan sehr gut gebrauchen.

THOMAS WINKLER

Immer Mittwoch bis Samstag, 20.30 Uhr, am Sonntag um 19 Uhr im Chamäleon Varieté, Hackesche Höfe, Rosenthaler Straße 40/41, Mitte