Frei flottierende Wahrheiten

Nicht erst heute ist das Foto, weil mit dem Mythos der Unbestechlichkeit ausgestattet, am sensibelsten für spät oder niemals entdeckte Manipulationen. Die aktuelle Ausstellung „X für U – Bilder, die lügen“ im Museum für Kunst und Gewerbe demonstriert es eindrucksvoll

von Hajo Schiff

Es sollte ein Pflichtbesuch sein. Aber wenn man das sagt, geht natürlich erst recht keiner hin. Dabei ist die Ausstellung mit dem Titel X für U – Bilder, die lügen im sonst eher dem Schönen Objekt zugewandten Museum für Kunst und Gewerbe Aufklärung pur – von A bis Z. Denn diese mediale Lügendetektei ist alphabetisch geordnet: „Aktuelles“ – „Born, Michael“ – „Comic“ – „Damnatio memoriae“ – „Entnazifizierung“ – „Führermythos“ – „Golfkrieg“. Etwas willkürlich gesetzt, aber immer interessant erschließen die Stichworte eine Fülle von Manipulationen mit und an Bildern.

Obwohl heute jeder seine Urlaubsfotos am PC nachbearbeiten kann, wirken Bilder seit Erfindung der Fotografie so, als seien sie ein getreues Abbild der Realität – ein Mythos, der bis heute wirkt. Ein Bild registriert man in ein bis zwei Sekunden, es wirkt schneller als Worte, von denen in der gleichen Zeit höchstens zehn erfasst werden.

Bilder, die lügen ist eine schon 1998 von der „Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn erarbeitete Ausstellung, die seit 2003 als Wanderausstellung auf Tournee geht. Mag das Lügenlabyrinth der 26 Begriffe auch von heutigen Möglichkeiten der elektronischen Bildbearbeitung angeregt sein, Manipulationen im Visuellen gab es immer schon. So lautet der Obertitel der Schau: „X für U“. Diese Redewendung bezieht sich auf die lateinischen Zahlzeichen, bei denen es leicht war, aus V (fünf) ein X (zehn) zu machen. Die Ausstellung dokumentiert nicht nur die Techniken der Informationsfälschung, sondern immer auch das damit Beabsichtigte: Das rückwirkende Verbannen ermordeter Kampfgefährten aus dem Geschichtsbild mittels Schere und Retuschierpinsel im Stalinismus oder die Verkaufsförderung in Werbung und Yellow-Press durch Bilder und schrille Thesen.

Wie in Deutschlands Medien Fakten verbogen werden, zeigt ein Beispiel von 2001: BILD zeigte ein Foto von Jürgen Trittin mit seiner Teilnahme an einer angeblichen Gewalt-Demo. Per rotem Pfeil wird im Bild auf einen Schlagstock und einen Bolzenschneider hingewiesen. Wie das Originalfoto von 1994 zeigt, handelte es sich dabei aber um ein Absperrseil und eine Handschuhhand an einem Dachgepäckträger. Das kaum bessere Schweizer Boulevardblatt Blick dramatisiert aus Anlass des Anschlages auf Urlauber in Ägypten im November 1997 eine Wasserpfütze vor dem Totentempel der Hatschepsut in Luxor digital zu einer riesigen Blutlache.

Aber das alles ist Kleinkram gegen die Massierung visueller und systemischer Lügen im Golf- und Irakkrieg, auf die die Ausstellung ausführlich eingeht. Am vielleicht deutlichsten macht die Bedeutungsmacht auch nur der Verschiebung eines Bildausschnitts ein Photo von Itsuo Inouye. Im März 2003 lichtete er ab, wie ein Gefangener Iraker von einem GI zu trinken bekam, während ihn von der anderen Seite ein weiterer US-Soldat das MG an die Schläfe hielt.

„Wer die Bilder beherrscht, beherrscht die Köpfe.“ Dieser Satz stammt nicht aus dem weißen Haus, sondern von Bill Gates, der über eines der größten Bildarchive der Welt verfügt. Und wie man auch Archive zum Lügen bringt, zeigt etwa die Kampagne gegen Heinrich Lübke. Es mag durchaus ins historisch-politische Bild passen, dass einer, der verantwortlich KZs mitgebaut hat, in der Bundesrepublik Deutschland Bundespräsident werden konnte. Doch diese mit Archivmaterial „belegte“ Vita von Heinrich Lübke war eine Propagandalüge des kalten Krieges: Erst nach 1990 konnte bewiesen werden, dass die Stasi alle belastenden Dokumente aus dem Dritten Reich zum Zwecke des Rufmords in gefälschten Zusammenhang gebracht hatte.

Diese Ausstellung regt an, den Zweifel zu einer Tugend zu machen. Aber das ist angesichts der heutigen Bilderflut nicht leicht. Unwahre Worte heißen Lügen – für gefälschte Bilder gibt es nicht einmal einen Namen.

Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr, Museum für Kunst und Gewerbe; bis 15. 9.; Katalog 14,90 Euro.