Titel per Notlösung

Astrid Kumbernuss ist derzeit von einer Fußverletzung gehandicapt. Deutsche Meisterin wird sie dennoch. Aber was wird bei Olympia?

AUS BRAUNSCHWEIGFRANK KETTERER

Es sah fast ein bisschen komisch aus, was Astrid Kumbernuss vollführte, da drüben in der Kurve. Die große blonde Frau glitt jedenfalls nicht dynamisch und kraftvoll durch den Ring, so wie man das beim Kugelstoß kennt, sondern machte in der Mitte einen etwas ungelenk wirkenden Zwischenschritt, der ihren Auftritt leicht unfertig wirken ließ. Astrid Kumbernuss bewegte sich bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Braunschweig jedenfalls nicht wie eine Kugelstoßerin von Weltklasse, was sie ja seit gut einem Jahrzehnt nun schon ist, sondern eher wie, na ja, wie eine alte Frau, was sie mit ihren 34 Jahren definitiv nicht ist. Vielmehr ist sie: Verletzt an der Plantasehne im Fuß. Vor vier Wochen hat die Neubrandenburgerin deshalb ihre Wettkampfsaison unterbrochen und den Fuß weitgehend ruhig gestellt, die deutschen Meisterschaften waren nun wieder ihr erster Wettkampf. Das Erstaunlichste dabei: Die Kugel flog dennoch weiter als bei allen anderen, auf genau 19,08 Meter nämlich, womit die große blonde Frau, die schon Weltmeisterschaften gewonnen hat und Olympische Spiele, einmal mehr auch deutsche Meisterin wurde.

Aber der Titel interessierte sie an diesem regnerischen Tag gar nicht so sehr. „Eine muss es ja werden“, sagte sie, und das war keineswegs arrogant gemeint, sondern entsprang lediglich den Gedanken und Zielen, mit denen sie sich derzeit beschäftigt. Kumbernuss wollte in diesem Jahr nicht deutsche Meisterin werden, sie will mehr, schließlich finden in gut fünf Wochen in Athen die olympischen Leichtathletik-Wettbewerbe statt. Das ist für jeden Sportler das Größte, aber für die Kugelstoßer- und Kugelstoßerinnen wird es in Athen noch etwas Größeres. Sie werden ihre Besten nämlich nicht im Olympiastadion von Athen ermitteln, sondern rund 200 km davon entfernt, im historischen Olympia, der antiken Kultstätte in Elis. Dort werden Tribünen für rund 15.000 Zuschauer aufgebaut und ein Kugelstoßring für die Sportler. „Darauf freue ich mich“, sagt Astrid Kumbernuss – und wenn sie diese Vorfreude etwas näher beschreiben soll, beginnen ihre Augen zu glänzen und ihre Stimme wird schwärmerisch. „Da werden alle Blicke auf uns gerichtet sein. Da stehen wir im Mittelpunkt“, sagt sie dann, und das ist wirklich nicht normal beim Kugelstoßen, das ja sonst eher in einer dunklen Stadionecke stattfindet, im Schatten der Läufer und Springer. In Olympia aber wird an diesem Tag nur diese Disziplin ausgetragen – und alle werden hinsehen, die ganze Welt. „Was will man mehr“, sagt Kumbernuss, „ich hatte doch schon alles.“ Und jetzt will sie eben nur noch dies eine: „In diesem antiken Olympia meine Olympischen Spiele machen. Ich will einfach dabei sein.“

Nun ist Dabeisein bei so großen Sportlerinnen wie sie gemeinhin nicht alles, die wollen schon mehr. Astrid Kumbernuss aber ist vorsichtig, wenn sie nach ihren Plänen bei Olympia befragt wird, der verletzte Fuß macht eine Prognose nahezu unmöglich – und auch sie selbst weiß nicht, wie sich die Verletzung entwickelt. Derzeit kann sie im Training lediglich aus dem Stand stoßen, auch Sprünge und kurze Sprints, die eigentlich zum Pflichtübungsprogramm einer Kugelstoßerin gehören, sind ihr nahezu unmöglich. „Deshalb habe ich auch lange überlegt: Mach ich’s, oder mach ich’s nicht?“, sagt die 34-Jährige und meint damit ihren Start in Braunschweig. Dass sie es getan hat, rührt daher, dass sie langsam, aber sicher wieder Wettkampfpraxis sammeln will – wegen Olympia und trotz der Verletzung. Besser gesagt: Mit ihr. „Das Problem ist, dass der Schmerz auch eine Kopfsache ist“, sagt Trainer Dieter Kollark, „mit so einer Verletzung ist es nicht leicht, unbeschwert draufloszustoßen.“

Deshalb auch die ungewöhnliche Technik mit Zwischenschritt, der Fuß wird dabei weniger belastet, die Schmerzgefahr minimiert. Mehr geht derzeit nicht. „Notvariante“, „Notlösung“, „so ein Zwischending eben“, hat Astrid Kumbernuss ihre Technik von Braunschweig wahlweise genannt. „Modifizierter Standstoß“, nennt sie Trainer Kollark. „Einen halben bis dreiviertel Meter weiter als jetzt“, sagt Kollark, müsse man draufrechnen, wenn sein Schützling mit richtiger Angleittechnik stoße. Macht irgendwas um die 20 Meter – damit kann man bei den Spielen durchaus eine Medaille gewinnen.

Die Frage ist nur: Lässt die Verletzung das bis Olympia zu? „Der Fuß wird jede Woche drei Prozent besser“, sagt Astrid Kumbernuss – und hofft, dass alles noch gut wird. „Wenn es in zwei Wochen nicht richtig geht, stoßen wir auch in Athen mit der Nottechnik“, sagt Dieter Kollark. Im Training hat Astrid Kumbernuss es damit schon auf 19,50 m gebracht. Kollark sagt: „Damit kann sie in den Endkampf kommen.“