in fußballland
: CHRISTOPH BIERMANN über Scouting

Bescherung zu Saisonbeginn

So richtig schlau wurden wir nicht daraus, warum uns Volker Finke in den Besprechungsraum neben seinem Trainerzimmer bat. Wollte er wirklich nur sein neues Videoequipment vorführen, mit dem beeindruckend großen Bildschirm, den Satellitentuner für Programme aus ganz Europa und den Decodern aus verschiedenen Ländern? Zeigte er uns das Fußballprogramm aus dem holländischen Fernsehen wirklich deshalb, um uns eine professionell unaufgeregte Präsentation von Fußball vorzuführen? Oder steuerte er zielgerichtet auf den Bericht einer Partie von Twente Enschede zu?

Auf jeden Fall forderte Finke meinen Freund Uli und mich auf, die letzte Szene noch einmal genauer anzuschauen und spulte das Videoband zurück. Unspektakulär war sie eigentlich gewesen. Ein Angreifer von Twente hatte sich auf der rechten Seite durchgesetzt und noch vor der Strafraumgrenze weit am Tor vorbeigeschossen. Doch Finke kam es auf ein Detail am Ende dieser missglückten Aktion an. Der Spieler hatte kurz die Hand gehoben und sich bei seinem Mitspieler entschuldigt, der eigentlich besser gestanden hatte. Das war es, was Finke gefiel, denn es zeigte ihm, dass der Spieler nicht nur wusste, wie es richtig gewesen wäre, sondern es wies ihn als Teamspieler und nicht als autistischen Solisten aus.

Wir fragten nach dem Namen des Spielers. Er nannte ihn, und ein Dreivierteljahr später hatte der SC Freiburg Ellery Cairo von Twente Enschede unter Vertrag genommen. Zweifellos hatte das nicht allein mit einer richtigen Handbewegung zu tun, auch Cairo war vor Ort mehrfach beobachtet worden. Aber sie mag der Schlüsselreiz gewesen sein, auf den Finke reagierte in diesem Geschäft der Fantasien und Projektionen, das Scouting im Fußball ist.

Bayer Leverkusen hat ein weltumspannendes Netz von Informanten, erklärte mir Manager Ilja Känzig einige Wochen nach dem Besuch in Freiburg beim Essen in der BayArena, ließ es jedoch nur in Umrissen erkennen, weil der Rest ein Betriebsgeheimnis ist. Von überall her treffen wöchentlich Berichte vom Transfermarkt ein. Sie sollen helfen, die Scouts an die richtigen Orte zu bringen, wo Beobachtungen und Bewertung möglichst objektiviert werden sollen: Schnelligkeit, Kopfballspiel, Laufvermögen, Spiel ohne Ball und was es da sonst noch gibt. Doch all diese Daten sind nur Nährstoffe der Projektionen, wie Spieler funktionieren könnten, wenn sie in der eigenen Mannschaft spielen. Denn kaum ein Profi bringt alle Fähigkeiten mit, in jeder Mannschaft der Welt die Qualität zu heben. Wer etwa in der argentinischen Liga ein Überflieger war, könnte in der Bundesliga falsch sein, weil er Fußball auf eine Art denkt und spielt, die hier nicht angemessen ist. Diese Übersetzungsprobleme gibt es jedoch nicht nur zwischen den Ländern, sie können sich schon zwischen München und Stuttgart, Hamburg oder Bremen ergeben.

Mit den Jahren erkennt man immer deutlicher, worauf Trainer besonders reagieren. Klaus Toppmöller wird stets die Spieler besonders lieben, die eher irrational sind, und wenn sie damit im Leben Schwierigkeiten haben, wird es ihn noch mehr anziehen. Finke wird nie einer egozentrischen Tormaschine verfallen, Huub Stevens immer verlässliche Profis schätzen und dafür Blässlichkeit im Spiel in Kauf nehmen. Ihre Fantasie wird sich in Momenten entzünden, wo die entsprechenden Charakteristika Form annehmen. Ein emotionaler Moment ist das, der dazu führt, all die in Fragebögen und Datenbanken scheinbar objektivierten Informationen so auszulegen, dass sie passen.

Überflüssig macht sie das noch lange nicht, aber die Intuition ist nötig, weil sich Transfers ohne Risiko nur einige Millionenklubs leisten können. Für die anderen ist daher zu Saisonbeginn stets ein Weihnachtsfest der besonderen Art. Wenn die Neuzugänge auf dem Platz stehen, wäre es immer wie beim Auspacken der Geschenke, sagte mir Känzig. Und wer hat da nicht schon erlebt, dass es statt der Autorennbahn nur eine Spielzeugeisenbahn gibt.

Fotohinweis: Christoph Biermann, 42, liebt Fußball und schreibt darüber.