Die Kunst des Kollektivs

Neue Werke der bildenden Kunst, die allein im Internet möglich sind, werden kaum noch produziert. Aber in den Online-Ausstellungen von Sonntagsmalern entsteht eine neue Art der Volkskunst

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Auch für die Institutionen des Kunstbetriebs ist das Internet überwiegend nur noch das, was es für alle ist: ein Mittel der Kommunikation, das vieles erleichtert, aber nichts wirklich Neues hervorbringt. Museen und Galerien werben im Web, ihre Rolle in der analogen Welt jedoch steht außer Frage, Sorgen machen müssen sich allein die Kuratoren der wenigen, immer noch aktiven Kunstserver. Ihnen geht schlicht der Stoff aus.

Beispielhaft tapfer hält etwa die Gruppe um „Turbulence.org“ an der Idee fest, dass es unbedingt eine Kunst im und für das Web geben müsse. Der Server wird von einer Organisation betrieben, die mit Geldern etlicher privater Stiftungen und der Stadt New York seit 1981 versucht, Kunst zu fördern, die für das Radio produziert wird. 1996 kam die Webkunst dazu, doch gerade der bewundernswert entschiedene Wille, minoritäre Wege bis zum Ende zu gehen, zeigt die Krisensymptome besonders deutlich. Das jüngste Werk, „N.A.G“ von Jason Freeman, besteht aus einer Software, die MP3-Dateien aus dem Gnutella-Netz holt und dann mit Algorithmen neu zusammenmischt, die aus Strukturen dieses Peer-to-Peer-Netzes, das ohne zentrales Verzeichnis auskommt, abgeleitet sind. Ein verzweifelter Versuch, den wahrscheinlich lebendigsten Teil des heutigen Internets zu ästhetisieren, verzweifelt deswegen, weil er den Reiz des jedem noch so unbedarften Laien zugänglichen Regelverstoßes zurückverschlüsselt in ein sehr komplexes Werk, dessen Ergebnis lediglich chaotisch ist.

So kann die Faszination des Mediums auch zur Blindheit führen. Denn gerade Peer-to-Peer-Netze zeigen am besten, worin die Neuerung des Internets besteht, sehr viel besser jedenfalls als die konzeptionellen Überlegungen, mit denen die erste Generation der Webkünstler Mitte der 90er-Jahre zunächst erfolgreich war. Daher verdient eine Tradition der Kunstproduktion und -vermittlung erneut Beachtung, die bislang kaum je als Kunst ernst genommen wurde. Sie beruht auf dem überaus einfachen Gedanken, dass in einem solchen Netz prinzipiell alle, die daran angeschlossen sind, genau das produzieren und ausstellen können, das sie für Kunst halten, zumal für ihre eigene Kunst in einem kategorischen Sinn.

Zwei Arten, das Internet in dieser Art zu nutzen, lassen sich unterscheiden. Zum einen können bestimmte Adressen als Plattform für Ausstellungen einzelner Künstler und ihrer Werke dienen. Sie stehen einer ständig wachsenden Community aus Produzenten und Betrachtern offen, und können im Laufe der Zeit durchaus einen eigenen Stil herausbilden, vergleichbar den Insiderregeln in Newsgroups und Chaträumen. Das Prinzip der gemeinsamen Plattform kann aber auch zum Versuch erweitert werden, ein kollektives Kunstwerk zu erzeugen. Die Mitglieder der Community dürfen in diesem Fall Beiträge der anderen ergänzen, zum Teil auch verändern. Vorbild für beides ist die Mitte der 90er-Jahre von dem amerikanischen Comiczeichner Ed Stastny gegründete Website www.sito.org. Noch heute ist nicht der geringste Mangel an neuen Werken zu spüren. Über 500 Namen sind in der Abteilung für Einzelausstellungen („Artchive“) verzeichnet, das kollektive Gesamtwerk unter „Synergy“ zählt 1.564 Bearbeitungsstufen („Levels“). Nach wie vor besteht es aus jeweils neun quadratischen Einzelbildern, die mit einem Mausklick zu benachbarten Ausschnitten weiterführen – eine Gesamtansicht ist nicht mehr möglich, das Kollektiv hat den Rahmen jeder analogen Darstellbarkeit gesprengt.

Ganz so weit wollte der Hamburger Informatiker Klaus Rosenfeld mit seinem Projekt „HypArt“ (www.hypart.de) nicht gehen, das seit Sommer 1994 aktiv ist. Heute enthält seine Galerie 47 abgeschlossene Gemeinschaftsbilder von jeweils neun Mitwirkenden, an der Nummer 49 kann noch mitgearbeitet werden: Kein Mangel an Stoff und Interesse auch hier.

Dieser Erfolg zwingt zu einer neuen Frage nach der Kunst, denn gemessen an den Standards von Kuratoren und Galeristen sind diese Werke zweifellos keine Kunst. Es sind Erzeugnisse von Laien, die ihren Computer aus reinem Bedürfnis nach Ausdruck nutzen, nur gelegentlich ist ein gewisses, unbeholfenes Talent erkennbar, grelle Farben, heftige Gefühle und hemmungsloser Gebrauch von Klischees überwiegen.

Vielleicht aber werden gerade diese Bilder bald in Museen zu sehen sein, weil sie nämlich die besten Zeugnisse der gegenwärtigen Volkskunst sind. Vielleicht sind sie sogar die einzigen Kunstwerke, die tatsächlich nur im Internet entstehen konnten, selbst wenn sie – wie bei HypArt – zu konventionellen Einzeltafeln gerinnen. Die unübersehbare Verarmung jener Webkunst, die bislang allein im Kunstbetrieb anerkannt war, ist der Preis dafür, dass sich die erste Generation der Webkünstler von der Metapher des virtuellen Raumes täuschen ließ. Es ging darum, ein bloß imaginäres Territorium zu besetzen mit Konzepten und Theorien vor allem, nur in zweiter Linie auch mit Bildern. Aber es blieb bei der Metapher. Die Sonntagsmaler von Sito oder HypArt haben sich darum nie gekümmert. Sie haben das Netz wörtlich genommen, nicht als Raum, sondern als Verbindung beliebig vieler Knoten gleicher Ordnung. Folgerichtig ist sein Abbild die Collage, die keine andere Regel kennt als das Geschmacksurteil und Ausdrucksbedürfnis beliebig vieler Individuen, die durch nichts als ebendieses Netz verbunden sind.

niklaus@taz.de