Selbstfindung als Lebensaufgabe

DIE ANDERE HALBZEITBILANZ (I): Für kein einziges der von ihnen als besonders drängend bezeichneten Probleme haben die Unionsparteien bislang ein gemeinsames Konzept

In der Kunst der Beliebigkeit hat es bislang niemand so weit gebracht wie Angela MerkelDie Fachpolitiker und die Führungsspitzen streiten mit- und gegeneinander wie die Kesselflicker

Was ist der Unterschied zwischen einer Scheidung und einer Parlamentswahl? Nachdem man Ehemann oder Ehefrau verabschiedet hat, kann man sich entscheiden, künftig allein zu leben. Wird eine Regierung in die Wüste geschickt, dann kommt hingegen unweigerlich eine andere hinterher. Wem die Neue besser gefällt als die Alte, hat Grund zur Freude. Seltsamerweise beschäftigen sich jedoch viele Wählerinnen und Wähler sehr viel weniger damit, welche Hoffnungen sie an eine Neue knüpfen, als mit den Klagen darüber, was ihnen an der Alten missfallen hat. (Auch das unterscheidet einen Regierungswechsel von zahlreichen Trennungen im privaten Leben.)

Seit Wahlen, wie Parteienforscher herausgefunden haben, immer häufiger als Instrument der Abstrafung und immer seltener als programmatisches Bekenntnis genutzt werden, fällt es der jeweiligen Opposition zunehmend leichter, sich entspannt zurückzulehnen. Für Wahlsiege wird derzeit offenbar wenig mehr verlangt als die Bereitschaft, möglichst lange unverbindlich zu bleiben und gelegentlich die Regierung zu kritisieren. In dieser Kunst der vollständigen Beliebigkeit hat es bislang niemand so weit gebracht wie Angela Merkel, auch nicht Oskar Lafontaine. Das will etwas heißen.

Der Erfolg gibt ihr Recht: Nur noch sehr wenige Beobachter zweifeln daran, dass die CDU-Vorsitzende zur nächsten Kanzlerkandidatin der Unionsparteien gekürt wird – und diese müssten, vertraut man den Wasserstandsmeldungen der Meinungsforscher, bereits eine Koalition mit der FDP als Niederlage betrachten. Haben sie derzeit doch Grund, sich berechtigte Hoffnungen auf eine absolute Mehrheit im Parlament zu machen.

Wenn kein Wunder geschieht oder eine Katastrophe – klimatischer oder anderer Natur – über Deutschland hereinbricht, dann spricht vieles dafür, dass der für unvermeidlich erklärte Umbau der sozialen Sicherungssysteme und die ebenfalls damit zusammenhängende Steuerpolitik die nächsten Bundestagswahlen entscheiden. Was ist in dieser Hinsicht von den Unionsparteien zu erwarten? Um das zu erfahren, müssen die Deutschen noch ein wenig Geduld aufbringen.

CDU und CSU haben bisher kein gemeinsames Konzept erarbeitet, für kein einziges der öffentlich als besonders drängend bezeichneten Probleme. Nicht für die als längst überfällig bezeichnete Steuerreform, nicht für die Gesundheitspolitik, nicht für die künftige Gestaltung des Arbeitsrechts, nicht für die Alterssicherung und auch nicht für die Frage, welche Subventionen unter einer unionsgeführten Regierung denn nun tatsächlich abgebaut werden sollen. Glaubt man dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, dann ist gerade diese fehlende Klarheit ein Hinweis auf besonderes Veranwortungsbewusstsein: „Wir müssen uns in allen Punkten akribisch auf die Regierungsübernahme vorbereiten“, erklärte er im Mai dieses Jahres in einem Spiegel-Interview. Von einem Mann, der vor knapp zwei Jahren nur um Haaresbreite daran vorbeigeschrammt ist, Bundeskanzler zu werden, ist das eine einigermaßen erstaunliche Aussage. Man dachte doch, das habe er längst getan.

Die Konfliktlinien verlaufen nicht einmal berechenbar entlang der Trennungslinie zwischen den so genannten Schwesterparteien. Vielmehr streiten die jeweiligen Fachpolitiker und die generalistischen Führungsspitzen mit- und gegeneinander, kreuz und quer wie die Kesselflicker. Friedrich Merz, ausgewiesener Finanzexperte der Union, möchte die Mehrwertsteuer erhöhen, um andere so genannte Sozialreformen gegenfinanzieren zu können – und vor allem, um die von ihm ersehnte Senkung der Einkommensteuer durchzusetzen. Den Wirtschaftsrat der CDU hat er dabei ebenso wie einige befreundete Landespolitiker auf seiner Seite. Nicht jedoch Angela Merkel oder Edmund Stoiber. Die wissen noch nicht so genau, was sie wollen, jedenfalls nicht, was sie am Ende gemeinsam wollen werden. Aber bis zum Jahresende möchten sie sich – wenigstens im Bereich der Gesundheitspolitik – auf eine Linie verständigen. Nach dann immerhin sechseinhalb Jahren in der Opposition. Respekt.

Der Selbstfindungsprozess als Lebensaufgabe: Es ist gar nicht so lange her, dass den Grünen vorgeworfen wurde, diesen Vorgang mit einem politischen Programm zu verwechseln. Hinterlässt es Flecken auf dem glitzernden Image der Union als überzeugender politischer Kraft, dass sie sich ausgerechnet in dieser Hinsicht als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen hat? Ach, woher. Das kollektive Gedächtnis ist kurz.

Sehr kurz. „Niemandem wird es schlechter gehen“, versprach Helmut Kohl am 1. Juli 1990 im Fernsehen, nachdem er einige Tage zuvor „blühende Landschaften“ auf dem Gebiet der ehemaligen DDR angekündigt hatte. Angela Merkel war seine gelehrige Schülerin. Niemand werde schlechter dran sein als bisher, erklärte sie im Hinblick auf die von einem CDU-Parteitag beschlossenen einheitlichen Gesundheitsprämien für alle Versicherten. „Das gilt.“

Um soziale Unwuchten in diesem Zusammenhang auszugleichen, sind nach Berechnungen der Union steuerfinanzierte Transfers in zweistelliger Milliardenhöhe erforderlich. Wo sollen die herkommen? Edmund Stoiber hat da eine Idee. Er plädiert für eine globale Minderausgabe von fünf Prozent. Er will also die Bundeszuschüsse für die Rentenversicherung, präziser: die Renten kürzen? Und den Wehretat? Vielleicht sollte er das den sicherheitspolitischen Sprechern der Union, die nach wie vor eine Unterfinanzierung der Bundeswehr beklagen, noch einmal ganz genau erklären. Nur keine Scheu! Vor seinen Kollegen aus der Sozialpolitik scheint er sich ja auch nicht zu fürchten: „Wir haben viel zu hohe Standards im Kinder-und Jugendhilferecht“, findet Stoiber.

Man darf nicht ungerecht sein. In manchem sind sich Edmund Stoiber und Angela Merkel auch heute schon einig: dass der Kündigungsschutz gelockert werden soll, die Flächentarifverträge abgeschafft – Verzeihung: modifiziert – werden müssen und dass es gilt, überhaupt wieder länger zu arbeiten. Ohne Lohnausgleich, versteht sich, oder noch besser: für weniger Geld. „Es geht nicht darum, dass die Verkäuferin in einem Supermarkt wie zur Frühzeit der Industriegesellschaft wieder 15 Stunden am Tag arbeiten soll“, sagt Angela Merkel. Nun gab es damals nicht so sehr viele Supermärkte. Davon abgesehen ist es aber doch erfreulich, dass man jetzt immerhin weiß, wo die CDU-Vorsitzende die Grenze zieht. Und dass es für sie eine gibt.

Wenn die Annahme stimmt, dass die Bevölkerung zu persönlichen Opfern nicht bereit ist, um den Sozialstaat zu retten, dann kann es nicht die Sozial-und Steuerpolitik von CDU und CSU sein, die denen derzeit Erfolge beschert. Was ist es dann? Es muss die Außenpolitik der Union sein. Aber: Welche Außenpolitik? Derzeit gibt es doch gar keine. Aber eigentlich ist das egal. Vielleicht ist für dieses Ressort ohnehin bald der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle zuständig. Was für eine Perspektive.BETTINA GAUS