Olaf Scholz spielt Tony Blair

Mit Blick auf den Parteitag im Herbst ruft der SPD-Generalsekretär die Genossen zum Abschied von ihrem Gerechtigkeitsbegriff auf: „Schlecht bezahlte und unbequeme“ Arbeit sei besser als Stütze. Nun warnt ein Parteienforscher vor Wahlniederlagen

von ANDREAS SPANNBAUER

In der SPD macht man sich neuerdings wieder Gedanken über Gerechtigkeit. Im Vorfeld des Parteitags im November zeichnet sich bei den Sozialdemokraten eine politische Zäsur ab: der Abschied vom Begriff der Verteilungsgerechtigkeit.

SPD-Generalsekretär Olaf Scholz bereitet seine Genossen bereits auf das große Ereignis vor. Die „Frage der gerechten Verteilung des Zuwachses an Wohlstand und Einkommen“, so der SPD-Generalsekretär vor kurzem bei einem Vortrag im Willy-Brandt-Haus, werde „den aktuellen Herausforderungen nicht mehr gerecht“. Scholz ruft seine Partei nun zu einem „umfassenderen Gerechtigkeitsbegriff“ auf – und stellt dabei zentrale Prinzipien der Partei auf den Prüfstand: Umverteilungsfragen sind für den Generalsekretär „nicht mehr von zentraler Bedeutung“.

Parteienforscher zweifeln an dem Erfolgsrezept des Generalsekretärs. Franz Walter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen, rechnet mit einem bösen Erwachen für die Genossen, falls diese den Vorschlägen von Scholz folgen. „Wenn Sozialdemokraten die sozialstaatliche Komponente vernachlässigen, verlieren sie die Wahlen“, sagt der Autor des Standardwerks „Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte“. Dies habe sich in den vergangenen Jahren in mehreren europäischen Ländern gezeigt.

Für den SPD-Generalsekretär ist die Frage der Qualität von Gerechtigkeitspolitik dagegen „niemals in erster Linie eine Frage der Quantität sozialer Transfers“. Der Sozialstaat müsse „so umgestaltet werden, dass er die wirtschaftliche Dynamik nicht erschwert und den Zugang möglichst vieler zu Bildung und Arbeit nicht behindert“, sagt Scholz ganz im Geist des britischen Premierministers Tony Blair.

Scholz ruft seine Partei insbesondere zu einer stärker angebotsorientierten Arbeitsmarktpolitik auf. Die Partei müsse „sämtliche Register zu ziehen, um die Erwerbstätigkeit zu erhöhen“. Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe sei „selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit“ besser als transfergestützte Nichtarbeit. Aus einem bestimmten Qualifikationsniveau lasse sich „kein Recht auf eine bestimmte Arbeit“ ableiten.

Parteienforscher Walter sieht in den Vorschlägen des SPD-Generalsekretärs eine Abkehr vom „Kern des sozialdemokratischen Denkens“. Die gesamte SPD-Tradition beruhe auf Umverteilung und Verteilungsgerechtigkeit, sagt Walter. Allerdings sei die Neuorientierung auch den Veränderungen im Wählermilieu der SPD geschuldet. So hätten sich die klassischen Unterschichtsquartiere von der SPD entkoppelt und seien als Zielgruppe unwichtiger geworden. Inzwischen seien SPD-Wähler in bürgerlichen Berufen häufig selbst negativ von Umverteilung betroffen. Allerdings sei der soziale Aufstieg der sozialdemokratischen Klientel eine eindeutige Folge der Umverteilungspolitik der Siebzigerjahre. Das aber würde die SPD-Spitze heute ignorieren.

In der SPD-Linken lösen die Vorschläge von Scholz ebenfalls Kritik aus. Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Parteilinke Michael Müller hält ein Abrücken von der Verteilungsfrage für falsch. „Die Globalisierung wird diese Verteilungsfragen wieder verschärfen“, warnt Müller. Auch der Vorstoß von Scholz, die Anreize zur Arbeitsaufnahme durch noch schärfere Zumutbarkeitskriterien zu erhöhen, führe auf die falsche Spur: „Das ist nicht die zentrale Frage.“ Eine höhere wirtschaftliche Produktivität könne nicht allein durch mehr Druck auf Arbeitslose erreicht werden.