Nach Schröder ist vor Gabriel

Voreilig hatte der SPD-Popbeauftragte Sigmar Gabriel sich vor Jahren als Ersatz-Kanzler präsentiert. Jetzt ist die Misere der SPD so tief und das Ansehen Gerhard Schröders so schlecht, dass die Nachfrage nach dem ehemaligen Jungtalent wieder steigt

„Das zweite sozialdemokratische Jahrhundert fängt jetzt an“

AUS HANNOVER JÜRGEN VOGES

Eine birnenförmige Gestalt, gewisse Korpulenz und ein tief liegender Schwerpunkt: Das Äußere jener Kinderpuppen, die sich von selbst wieder aufrichten, hat die Natur dem niedersächsischen SPD-Fraktionschef Sigmar Gabriel bereits mitgegeben. Mittlerweile versucht der 44-Jährige allerdings auch im politischen Sinne ein Stehaufmännchen zu sein. Seit es mit dem Ansehen des Bundeskanzlers kräftig bergab geht, findet Gabriel zunehmend wieder Gehör.

Vor eineinviertel Jahren hatte der damals jüngste deutsche Ministerpräsident seiner Landes-SPD ein Minus von 14,5 Prozentpunkten beschert. Anschließend hängte ihm der Kanzler auch noch den Posten eines Popbeauftragten der Sozialdemokratie an. Der gedemütigte Wahlverlierer dachte über einen Rückzug aus der Politik nach.

Spätestens die SPD-Pleite bei der Europawahl, bei der die Wähler nun eindeutig die Schröder-Regierung mit einem Verlust von 9,2 Prozentpunkten abstraften, hat das Gehör für Gabriel-Worte wieder wachsen lassen. Hatte sich der gewichtige Niedersachse vor Jahren voreilig als Repräsentant der Nach-Schröder-SPD empfohlen, gibt es wegen der Misere der Partei mittlerweile Nachfrage nach dieser Rolle.

Zudem hat der 44-Jährige auch als SPD-Oppositionsführer im Landtag in Hannover Tritt gefasst. Zusammen mit den Grünen und den Gewerkschaften konnte der SPD-Fraktionschef über die Drohung mit einer Volksinitiative etwa das Regierungslager dazu zwingen, eine Verkleinerung des mit 183 Sitzen üppigen Landtages vorzuziehen. Die regierende CDU/FDP-Koalition hat zudem neue unpopuläre Sparbeschlüsse gefällt: Kulturförderung und Städtebau müssen bluten, die Landeszentrale für politische Bildung wird geschlossen. „Erheblichen Ärger“, so sagt Gabriel selbst, habe sich die Regierung von Ministerpräsident Wulff auch in der Bildungspolitik eingehandelt: für Bücher und Schulbusfahrten müssen die Schüler nun weitgehend selbst aufkommen. Auch muss bereits nach dem vierten Schuljahr die weiterführende Schule gewählt werden – die Orientierungsstufe ist weg. Selbst die Gehälter der Polizisten wolle sie senken. „Der Lack ist ab“, fasst Gabriel den Zustand der Koalition zusammen.

Der ehrgeizige SPD-Fraktionschef macht sich inzwischen Hoffnungen auf eine Rückkehr ins Amt des Ministerpräsidenten. „Ich trete 2008 in Niedersachsen wieder an und will die Wahl mit der SPD gewinnen“, versichert der 44-Jährige. Das letzte Wort bei der Spitzenkandidatur habe allerdings ein SPD-Landesparteitag im Jahr 2006.

Der niedersächsische SPD-Fraktionschef beherrscht nicht nur das Talk-Show-Parlando, er kann auch ordentliche Wahlkampfreden halten, wie er etwa jüngst bei der bundesweiten SPD-Abschlussveranstaltung des Europawahlkampfs unter Beweis stellte. Im ersten eigenen Wahlkampf ersetzte er bei Großveranstaltungen allerdings lieber die Politik durch Rockmusik und sackte in der heißen Phase jene entscheidenden fünf Prozent in der Wählergunst ab, die ihn dann das Amt kosteten. Politische hat Gabriel mittlerweile mit SPD-Netzwerkern den seinem Alter entsprechenden Verein zur gegenseitigen Förderung des persönlichen Fortkommens gefunden.

Bei aller Konkurrenzbeißerei steht der 44-Jährige politisch dem Kanzler doch nahe. „Ich bin nicht gegen die Agenda 2010“, verteidigt er klar das Schröder’sche Umverteilungsprogramm. Gabriel sieht allerdings dabei eine „objektive Gerechtigkeitslücke“, mit der die SPD auf Dauer nicht leben könne. Seine Kritik lautet ausdrücklich nicht, „dass wir nicht sparen müssen“. Nur müssten bei der Verteilung der Belastungen alle dabei sein. Die Instrumente, die das ermöglichten, wie die Vermögensteuer und den Spitzensteuersatz dürfe man nicht länger verteufeln. Chancen, die bereits beschlossen Senkung des Spitzensteuersatzes noch rückgängig zu machen, sieht er allerdings nicht.

Die gegenwärtige Gerechtigkeitslücke in der Regierungspolitik sieht Gabriel allerdings nur als kurzfristiges Problem, langfristig plant er gleich ein neues sozialdemokratisches Jahrhundert. „Wir haben kein glaubwürdiges europäisches sozialdemokratisches Konzept, wie wir mit der Globalisierung und ihren negativen Folgen umgehen wollen“, stellt er fest. Die Koppelung von wirtschaftlich-technischen an den sozialen Fortschritt müsse jetzt auch auf internationaler Ebene gelingen. Das sei die zweite Jahrhundertaufgabe der SPD. Da ist sich Gabriel sicher: „Das erste sozialdemokratische Jahrhundert ist vorbei und das zweite fängt jetzt an.“