Bittere Strafe

Die komplizierte Innenarchitektur der Belle Époque: Stephen Frears’ hinreißender Film „Chéri“ im Wettbewerb

Man muss Kathy Bates gesehen haben: Wie sie als Madame Peloux ihr Kinn beim Sprechen über die hochgeschnürten Brüste recken muss. Wie sie sich an die Arbeit des Hinsetzens macht, um in ihrem Wintergarten nach dem Dessert eine kräftige Zigarette zu rauchen. Den Leib zur Verdauung in die Seitenlage gebracht, die Schuhe abgelegt auf einem Hocker mit Leopardenfell, verteilt sie lustvoll ihre Sticheleien. Und wenn ihr deftiger Husten und ihr ebensolches Lachen Löcher in die Konversation reißen, ahnt man, dass auch sie eine Dame mit nicht ganz einwandfreier Vergangenheit ist.

Wie Bates also durch dieses Reich aus importierten Köstlichkeiten lustwandelt, das offenbart die ganze komplizierte Innenarchitektur der Pariser Oberschicht der Zwanzigerjahre. Und der Frauen, die in sie hineingeheiratet oder sich hineingeschlafen haben. Sie sind diejenigen, die die Szenerie beherrschen. Die Männer sind verschollen, tot, häufig wechselnd. Oder so verzogen wie „Chéri“ (Rupert Friend), der Sohn der Gastgeberin.

Der 19-jährige Sohn soll bei der in die Jahre gekommenen Kurtisane Léa (Michelle Pfeiffer), bezeichnenderweise Nounoune (Nounou = Tagesmutter) genannt, seine Mannwerdung proben. Doch aus der „Betreuung“ werden sechs Jahre. Natürlich knüpft Regisseur Stephen Frears hier an das Schema seiner „Gefährlichen Liebschaften“ an: nicht so sehr an das meisterliche Spiel aus künstlichen Verzögerungen und unvermeidlichen Annäherungen, sondern an den Wechsel aus unvorsichtiger Enthemmung und bitterer Strafe.

Léa, so gut sie auch die giftgetränkte Sprache hochherrschaftlicher Zicken beherrscht, sosehr sie sich auf vorgetäuschte Herzenskälte versteht, sie muss leider allzu bald im Stillen leiden. An der Liebe, dem Alter, dem Egoismus des auch nach seiner Heirat fürs Vergnügen zurückdackelnden Geliebten.

Frears’ Verfilmung des gleichnamigen Romans von Colette ist im besten Sinne ein Austattungsrausch aus echten und falschen Blüten. Ein Film wie Nounoune selbst. „Wunderschöne Henkel für eine alte Vase“, sagt sie einmal über die eigenen zur Decke gestreckten Arme. Nur was mit ihr passiert, wenn sie zerbricht, interessiert hier keinen so wirklich.

Der Krieg macht der Belle Époque ein Ende. Chéri muss an die Front. Er wird zurückkehren ohne einen Kratzer. Das Leben selbstbewusster, nicht nur ökonomisch denkender Pariser Damen scheint in jenen Tagen weitaus gefährlicher.

BIRGIT GLOMBITZA

„Chéri“. Regie: Stephen Frears. Mit Michelle Pfeiffer, Kathy Bates. Großbritannien u. a. 100 Min. 11. 2., 12 Uhr, Friedrichstadtpalast; 17:30 Urania; 23 Uhr, Friedrichstadtpalast