Der Geist in Zeiten der Unireformen

taz-Sommerschule (1): Sink and swim. Oder warum es Sinn macht, massenhaft unnützes Wissen zu verbreiten

Wieso eigentlich noch in den Geistes- und Sozialwissenschaften promovieren? Um wenigstens einmal im Leben die Welt vernünftig ansehen zu können? Die Universität, so die Fama, stelle den gesellschaftlichen Ort unverkürzter Rationalität dar. Eine Vorstellung, die heute aus vielerlei Gründen antiquiert erscheint. Das Diktat des Ökonomischen und der Sound der Hochschulreformen dominieren weithin die Debatte um die „Wissensgesellschaft“. Klagen über zu wenig Geld sind zwar häufig nur allzu berechtigt, zielen am Kern des Problems jedoch vorbei: Worum es vor allem geht, ist ein weit verbreitetes wissenschaftspolitisches „Kalkül des Kalkulierbaren“ (Armin Nassehi), dem die gesellschaftliche Produktion von Wissen unterworfen wird.

Damit die ganze Sache nicht langweilig wird, führen die politischen Akteure Zirkusnummern wie „Eliteuniversitäten“ oder „Brain-up-Initiativen“ auf – hochschulpolitische Animation inklusive. So formulierte Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) schon vor geraumer Zeit auf einfühlsame Weise ihren Wissenschaftsdarwinismus: „Künftig gilt auch in Deutschland: sink or swim“. Will meinen: Wer gegenwärtig und zukünftig nicht in der Lage ist, sich im globalen Wissenswettbewerb mit seinen Erkenntnissen zu behaupten, wird bereits an den Qualifikationserfordernissen scheitern. Diese orientieren sich – so die Animateurin – an einer „schnellen Umsetzung von Forschungsergebnissen in Produkte und Dienstleistungen“.

Guter Wille vorausgesetzt, könnte eine solche Umsetzung bei unseren eigenen Dissertationsthemen – (Kultur-)Geschichte der DDR aus wissenssoziologischer und musikwissenschaftlicher Sicht – gerade eben so noch funktionieren. Aber was sollen unsere Kommilitonen dazu beitragen, die etwa zum Wahrheitsbegriff bei Heidegger oder zu ähnlich exotischen Dinge wie der „Soziologie des Schleims“ forschen? Dafür gibt es höchstens noch ein „Seepferdchen“ als Schwimmabzeichen, Ertrinken vorprogrammiert.

Dankbar konnte man also sein, dass kürzlich auf einer Dresdner Tagung unter dem Titel „Risse im Gemäuer? Hochschulreformen, die Universität und die Zukunft der Geistes- und Sozialwissenschaften“ Schwimmflügel verteilt wurden. Ausgangspunkt für die Rettungsaktion war der Befund, dass Geistes- und Sozialwissenschaftler sich freiwillig in die Defensive begeben – auf zweierlei Art: durch Anbiederung an die Verhältnisse; durch Totalverweigerung gegenüber der Debatte.

Die Althistorikerin Charlotte Schubert, Prorektorin für Studium und Lehre der Universität Leipzig, eröffnete ganz im Sinne des neuen Hochschulreformsprechs. Sie vermittelte den nachhaltigen Eindruck, dass es zukünftig vor allem um eines geht: um Bachelor/Master (kurz: BaMa) oder konkreter: um die Gesamtakkreditierung. Wer es jetzt noch nicht begriffen hatte, dem war auch mit Credit-Point-Systemen und studentischen work loads nicht mehr weiterzuhelfen. Dies alles, so Schubert, sei längst „kein Blütentraum“ mehr, sondern bereits „durch die Gremien unserer Universität“.

So mancher unter den Anwesenden fasste dies als unverhohlene Drohung auf. Die Lämmer betonten, dass bereits jetzt unter katastrophalen Bedingungen geforscht, publiziert und gelehrt werde. Regelmäßig sind zudem Anträge zu stellen und Gutachten zu verfassen. Jürgen Kaube (FAZ) berichtete von Wissenschaftlern, denen all dies nicht ausreiche und die in bis zu zwölf außeruniversitären Gremien mitarbeiteten und an die sieben wissenschaftliche Buchreihen herausgäben. Problem an der Sache: Für die Lehre bleibt keine Zeit mehr, während die Publikationslisten wuchern und die Ausdifferenzierung von immer spezialisierteren Teildisziplinen exponentiell ansteigt.

Wieso nicht andersherum, fragte Kaube: also mehr Lehre, dafür weniger Forschung? Gerade die Lehre könnte den Raum für kontemplative Wissensformen bieten – massenhafte Verbreitung unnützen Wissens wäre die Folge. Die Debatte hatte ihren entscheidenden Punkt erreicht: Liegt hier widerständiges Potenzial, das manches geistes- und sozialwissenschaftliche Fach sich zu Eigen machen könnte? Hoffnung keimte auf, als Heidrun Hesse (Tübingen) feststellte: „Jede Textlektüre ist für sich gesehen bereits innovativ.“ Jedoch sei, so fügte die Philosophin hinzu, die Verwendung von Begriffen wie „hermeneutische Kompetenz“ oder „Orientierungswissen“ immer auf den Nachweis ihrer Nützlichkeit aus – und könnte in der Rede von „Schlüsselqualifikationen“ enden.

Welche Produkte und Dienstleistungen wären denn aus unseren eigenen Dissertationen, die sich mit einem vor 15 Jahren untergegangenen Staat beschäftigen, später zu ziehen? Sicher, Wirkungen auf die „politische Kultur“ sind keineswegs ausgeschlossen, bei Dissertationen aber eher unwahrscheinlich und zudem nicht vorherzusagen. Die „Aufarbeitung“ von Geschichte in Dissertationen wird nicht anhand ihres gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzens gemessen, sondern über wissenschaftsinterne Kriterien bewertet. Der Wettbewerb um die besten Köpfe ist Normalzustand, auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Dies hochschulpolitisch einzugestehen, wäre wirklicher Mut zum Risiko: Lassen wir uns auf das Kalkül des Unkalkulierbaren ein.

JENS HÜTTMANN
NINA NOESKE

Die AutorInnen promovieren an der Universität Erfurt bzw. der Franz-Liszt-Hochschule für Musik in Weimar