Die Schulden zahlen die Enkel

Ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele 2004 in Athen sind noch viele Probleme ungelöst. Die einstigen ökologischen Ambitionen werden dem Zeitdruck geopfert, und die Kosten für die vielfältigen Baumaßnahmen steigen stetig und rapide

aus Athen OLE SCHULZ

„Spiele ohne Fehl und Tadel“, mit einem umweltfreundlichen Anspruch und „in menschlichen Dimensionen“ – mit diesen hehren wie hochtrabenden Versprechungen hatten sich die Athener 1997 um die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2004 beworben. Doch ein Jahr vor der Eröffnung sind die Ankündigungen seitens der Organisatoren erheblich kleinlauter geworden.

Die Inspektoren des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) äußerten sich zuletzt „reserviert“ über den derzeitigen Zustand der Sportstätten und beim ersten, vergangene Woche ausgetragenen olympischen Testwettbewerb in Schinias nordöstlich von Athen traten prompt Probleme auf: Starke Winde ließen bei der Ruder-Junioren-WM etliche Boote kentern und brachten den Zeitplan dermaßen durcheinander, dass Beobachter empfahlen, als Windfang schnell noch Bäume entlang der Strecke zu pflanzen. Denis Oswald vom Exekutivkomitee des IOC schmetterte den Vorschlag allerdings sogleich mit der umwerfenden Erkenntnis ab: „Bäume brauchen Zeit zum Wachsen.“ Und viel Zeit bleibt wahrlich nicht mehr.

Parallel verlieh der World Wildlife Fund (WWF) bereits eine erste Goldmedaille an das Athener Olympia-Organisationskomitee Athoc: den Preis für „vergebene Chancen“. Denn beim Umweltschutz sei es bei „Lippenbekenntnissen“ geblieben, so Dimitris Karavelas, Chef vom WWF Griechenland. Die Einhaltung zugesicherter ökologischer Standards – Nutzung von Solarenergie, Einsatz ungiftiger Baumaterialien, Berücksichtigung der Müllverwertung – gelte laut Karavelas wegen der chronischen Verzögerungen zunehmend als überflüssiger „Luxus“.

Nikos Charalambidis von Greenpeace Griechenland schätzt die Lage ähnlich pessimistisch ein: „Die Quadratmeterzahl an Grün oder Freiflächen pro Einwohner ist heute schon eine der niedrigsten in Europa.“ Doch statt einen Schritt weiter als das Olympiavorbild Sydney zu gehen, müsse man – trotz der zu erwartenden Verbesserungen im öffentlichem Nahverkehr – insgesamt von einem Rückschritt sprechen: „Von den Versprechungen ist nicht nur sehr wenig übrig geblieben, es bleibt auch kaum mehr Zeit, daran noch etwas zu ändern. Allerdings muss man sich auch vor Augen halten, dass Athen eine viel kompliziertere Stadt als Sydney ist. Nur wusste man das schon vorher, das ist keine Überraschung.“

Athen im Sommer 2003: Nicht gerade die angenehmste Zeit in der Stadt. Die meisten antiken Stätten und die großen Museen sind wegen Renovierung geschlossen. Und angesichts der Hitze wird ohnehin jede Bewegung zur schweißtreibenden Anstrengung. Man muss schon einige Tage bleiben und die Stadt ganz gemächlich zu Fuß erkunden, um die schönen Seiten Athens zu entdecken – den byzantinischen Flair einiger Stadtteile, die ruhigen Ecken und kleinen Plätze, die man fast in jeder Nachbarschaft finden kann. Von den beschworenen städtebaulichen Veränderungen ist noch nicht viel zu sehen. Der Athener Hauptplatz Omonia ist zwar endlich keine Baustelle mehr, die karge, steinerne Gestaltung macht den verkehrsumfluteten Platz aber kaum einladender als zuvor. Immerhin sind die Straßen rund um die Akropolis weitgehend für den Autoverkehr gesperrt worden, und man kann hier jetzt entspannt flanieren.

Dass die Spiele 2004 stattfinden werden, daran zweifelt in Athen kaum einer. Was die Stadt langfristig von den Spielen haben wird, ist jedoch umstritten. Viele halten sich wegen der „nationalen Aufgabe“ mit Kritik zurück, es gibt aber auch vehemente Gegner wie Iorgos Sariyannis, Professor für Stadtentwicklung an der – traditionell linken – Polytechnischen Universität: „Die Gewinner der Olympischen Spiele sind die Investoren, die mit den Baugeschäften viel Geld machen. Nur mit dem Vorwand der Spiele konnten riesige Geschäftsgebäude errichtet werden, die lediglich die 15 olympischen Tage gesellschaftlich genutzt werden, bevor sie den Investoren übereignet werden.“

Sicher ist: Der Staat zahlt sehr viel für die Ausrichtung der Olympischen Spiele. Zu Beginn des Jahres waren die Gesamtkosten erneut um 800 Millionen Euro gestiegen – auf mittlerweile 5,4 Milliarden Euro. Dabei fällt der Anteil für die reinen Organisationskosten, die das Vorbereitungskomitee Athoc überwiegend selbst erwirtschaften will, vergleichsweise bescheiden aus. In die Höhe geschnellt sind insbesondere die Aufwendungen für lange überfällige Infrastrukturmaßnahmen: Der Bau zahlreicher Umgehungsstraßen, die neue Straßenbahn sowie die Modernisierung des Stadt- und U-Bahn-Systems machen fast zwei Drittel aller Ausgaben aus. „Ich denke schon, dass sich vieles verbessern wird“, so die ehemalige konservative Parlamentsabgeordnete Virginia Tsoudoros, „aber ich bin mir nicht sicher, was meine Enkelkinder sagen werden, die für die Schulden aufkommen müssen.“

Das Athener Olympia-Vorbereitungskomitee bemüht sich derweil händeringend, allen Anforderungen zu genügen. Denn am meisten fürchtet man, sich vor den Augen des Auslands zu blamieren. Manchmal nehmen die umtriebigen Bemühungen reichlich groteske Züge an, zum Beispiel bei der Diskussion darüber, ob die Bordelle im Athener Zentrum für die Zeit der Spiele geschlossen werden sollen. Und wo die erwarteten 110.000 Olympiagäste am Tag im kommenden Jahr untergebracht werden können, ist bis heute ebenfalls nicht geklärt.

Ob des Zeitdrucks bleibt den Athenern jedenfalls kaum ein Ausweg, als sich schleunigst auf die hohe Kunst des Improvisierens zu besinnen – eine Fähigkeit, mit der sich die Griechen sonst so gern schmücken und ohne die der Athener Alltag auch schwierig zu bewältigen wäre.

Einige Erfahrung im Improvisieren hat man jedenfalls: Schon bei den ersten Spielen der Neuzeit, 1896 in Athen, war das Olympiastadion nicht plangemäß fertig geworden: Der letzte Stein wurde erst acht Jahre später gesetzt.