Wo „positiv“ noch positiv klingt

Aids bleibt in Indien ein Tabu, obwohl die Epidemie sich längst auf dem Land ausbreitet – die Geschichte der Blumenmädchen von Madras

AUS DELHI BERNARD IMHASLY

„Sie wollen zu den Positiven? Dort hinten geht's rauf.“ Der Tabakhändler in seinem Bretterverschlag weiß zwar, dass sich die Frauen vom „Positive Women's Network“ (PWN) im ersten Stock dieses alten Wohnhauses in Madras treffen. Doch er hat keine Ahnung, was „Positiv“ bedeutet. Und falls er die Frauen beobachtet, die an diesem Nachmittag in einem Hinterzimmer um einen Tisch herum sitzen, er würde wohl auf Kunsthandwerkerinnen tippen.

Nur die Zielgruppe für die Kunstblumen aus Draht und farbiger Gaze verrät die Bedeutung von „positiv“: Die Nichtregierungsorganisation aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu will sie auf der Welt-Aids-Konferenz in Bangkok an einem Stand verkaufen und dabei ein bisschen Geld und Aufmunterung für ihre Mitgliederinnen ernten. „Es ist unser Ziel, den HIV-positiven Frauen wieder die ursprüngliche Bedeutung von ,positiv‘ zu vermitteln“, sagt Mary Julie, die Betreuerin von PWN.

Die Frauen können es gebrauchen. Die meisten der 170 Mitglieder sind Witwen, auch viele ihrer Kinder sind mit dem HI-Virus infiziert. Exemplarisch, weil so außergewöhnlich, ist dabei die Geschichte der 32-jährigen Rajeshwari. Wie die meisten Frauen erfuhr sie von ihrer Ansteckung beim Schwangerschaftstest. Und wusste sofort, woher der Virus stammte. Ihr Gatte hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er auch mit anderen Frauen Sex hatte. Schließlich war er ein Mann und außerdem noch Polizist und hatte damit im Umgang mit Prostituierten das Gewaltmonopol des Staates auch auf seiner Seite.

Rajeshwari wollte ihn damals verlassen. „Aber wohin hätte ich gehen können? Meine Familie wollte nicht, dass ich zurückkehrte.“ Rajeshwari erzählt weiter, sie sei nicht in der Lage, ihren Mann zum Gebrauch eines Kondoms zu zwingen und könne sich ihm auch nicht verweigern. Mary Julie springt ein, als Rajeshwari errötend verstummt: Widerstand wirke als Stimulans.

Es gab allerdings auch Ausnahmen. Bei Rajeshwaris Kollegin Padmaja stärkte Aids – sie, ihr Mann, auch eines der Kinder sind HIV-positiv – die Ehe. Während sich Rajeshwari unter irgendwelchen Vorwänden zu PWN-Treffen stehlen muss, hat Padmaja die Unterstützung ihres Gatten. Doch für beide Frauen bedeutet die Mitgliedschaft bei PWN dasselbe: Es war der erste Schritt in die Öffentlichkeit, weil es, wie Padmaja sagt, „oft schwierig ist, allein damit zu leben“. Beide tragen dazu bei, den dichten Schleier über der Aids-Krankheit in Indien allmählich zu lüften. Dahinter kommen immer mehr Frauen zum Vorschein.

Die Blumenmädchen von Madras sind ein Indiz dafür, dass die Krankheit allmählich aus den Ghettos der Hochrisikogruppen ausbricht. Jahrelang begründeten Indiens Politiker ihre Indifferenz gegenüber der Krankheit mit dem Argument, dass die hohe Zahl der HIV/Aids-Kranken in Indien – die offizielle Schätzung spricht von 4,5 Millionen, nach Südafrika die weltweit höchste Zahl – sich auf einige Bundesstaaten, und hier auf Sexarbeiterinnen, Drogenabhängige und homo- und bisexuelle Männer konzentriere. Nun zeigt sich, es sind nicht nur Frauen aus großstädtischen Slums, die dabei gefährdet sind, sondern auch ihre Schwestern in den Dörfern.

Für die Verbreitung sind vor allem die Millionen indischer Wanderarbeiter verantwortlich, junge Männer in den Industriemetropolen und die Hauptklientel für die rund 275.000 Bordelle und zwei Millionen Prostituierten indienweit. Kehren sie in ihr Dorf zurück, infizieren sie ihre Frauen. Diese sind als Jungfrauen in die Ehe mit einem Partner getreten, von dem sie vor der Heirat „höchstens die astrologischen Konstellationen“ kannten, wie Suniti Solomon sagt, die Leiterin der Y.R.-Gaitonde-Aids-Klinik in Madras. „Besser, sie würden ihre Bluttests vergleichen.“

Solomon hatte 1986 erstmals den HI-Virus in Indien identifiziert und gilt heute als Aids-Pionierin des Landes. Sie ist skeptisch, ob die Gratis-Abgabe von Aidsmedikamenten, die am 1. Mai in sechs indischen Bundesstaaten angelaufen ist, echte Erfolge bringen wird. Obwohl die Regierung damit ihre jahrelange Indifferenz gegenüber Aids aufgegeben hat, ist Salomon überzeugt, dass Präventionskampagnen billiger und besser wären als jede Therapie. In einem Land, wo Ehepartner selten über Sexualität sprechen und selbst in den Großstädten Küsse oder Umarmungen in der Öffentlichkeit noch verpönt sind, stoße aber die Aufklärung an enge Grenzen. Solomon erzählt von den vielen Politikern und Industriellen aus Delhi, die sich bei ihr in Madras behandeln lassen, damit in der Hauptstadt niemand von der Ansteckung erfährt; und von der Filmemacherin Revati Menon, die es für die Besetzung der Rolle eines Aidskranken in ihrem Film „Fir Milenge“ nicht schaffte, einen der großen Bollywood-Stars anzuheuern.

Wenn es Erfolge bei der Therapie gäbe, hofft die Klinikchefin, werde auch der Prävention entscheidend zum Durchbruch verholfen. „Und falls sich zeigen sollte, dass die Therapie zu wirken beginnt, wird dies auch die Stigmatisierung reduzieren und Kranken den Schritt in die Öffentlichkeit erleichtern“ – nicht nur den Blumenfrauen des „Positive Women's Network“, sondern auch ihren Ehemännern.