Gelber Betriebsunfall

Thomas Voeckler weiß, dass seine Tage als Tour-Spitzenreiter gezählt sind. Ein bisschen ist er darüber sogar froh. Um das „maillot jaune“ kämpfen will der 25-Jährige aus dem Elsass aber trotzdem

AUS GUÉRET SEBASTIAN MOLL

Thomas Voeckler kam spät zum Abendessen, an dem Tag, an dem er das gelbe Trikot übernommen hatte. Pressekonferenz, Dopingkontrolle, Fernsehinterviews, das alles hatte seine Zeit gedauert. Frisch geduscht und massiert hatte er sich dann fix das schlichte, beige Polohemd aus seiner Mannschaftsausrüstung übergestreift, um sich nach einem langen Tag endlich in Ruhe zu seinen Kameraden zu setzen. Doch seine Kollegen bei der französischen Mannschaft Brioches La Boulangère, deren Sponsor eine Großbäckerei ist, ließen ihn nicht in Ruhe. Das gelbe Trikot solle er anziehen, forderten sie, so wie er nach dem Gewinn der französischen Meisterschaft im Juni abends auch das blauweißgelbe Hemd des nationalen Champions getragen hatte.

Doch Voeckler war das gelbe Hemd vom ersten Tag an unangenehm, ein wenig unheimlich. Als er im Winter bei einer Flasche Wein mit seinen Kollegen von der kommenden Tour de France geträumt hatte, hatten sie davon fantasiert, wie der blaue Zug von US Postal vor dem Feld herzubrausen. Es war ein Kleiner-Jungen-Traum, so wie kleine Jungs davon träumen, einmal Lokomotivführer zu werden oder Pilot. Und dass die junge Mannschaft Brioches ein halbes Jahr später tatsächlich vor dem Feld herfahren würde, um das gelbe Trikot zu verteidigen, erscheint ihnen noch immer unwirklich. „Das ist mir alles ein bisschen viel“, sagte Voeckler schon in Chartres, am Abend nach der Etappe, in der er das Trikot übernommen hatte.

Die Mannschaft Brioches La Boulangère ist die Nachfolgemannschaft von Bonjour, jener jungen französischen Mannschaft, über die man sich noch vor drei Jahren lustig gemacht hatte. Sie war eine Neugründung nach dem Dopingskandal von 1998 und sollte für einen Neubeginn im Radsport stehen, für einen Bruch mit den verkrusteten Strukturen und der Kultur des Betrugs. Deshalb bevorzugte Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc Bonjour seinerzeit bei der Tour-Nominierung gegenüber so manch etablierter Mannschaft. Lieber ein sauberes junges Team als eine Mannschaft mit Stars, aber dubiosen Vorbereitungspraktiken, so war damals die Argumentation.

Die etablierte Radsportwelt war sich hingegen einig, dass die Novizen nichts bei der Tour zu suchen hätten. Bis zur Regenetappe von Pontarlier 2001, wo der Bonjour-Fahrer François Simon den Favoriten bei einer Flucht 35 Minuten abnahm. Erst auf der letzten Bergetappe durch die Pyrenäen konnte Lance Armstrong damals Simon das gelbe Hemd wieder ausziehen.

In einer ähnlichen Lage ist nun der aus dem Elsass stammende Voeckler. Er hat ebenfalls auf einer Etappe, auf der die Favoriten mit einiger Unlust den Landregen über sich ergehen ließen, 10 Minuten Vorsprung herausgefahren. Und nun ergeht man sich in Frankreich in Spekulationen, wie lange er das maillot jaune wird behalten können. Einige sagen, er verliere es bereits in den Pyrenäen, der einstige Champion Luc Leblanc meint, es würde bis in die Alpen halten, und ganz große Optimisten sehen Voeckler sogar noch in Paris in Gelb.

Voeckler selbst ist da realistischer. „Ich werde es Tag für Tag verteidigen. Ich werde mir die Gedärme aus dem Leib fahren. Aber ich habe nicht das Niveau der Großen.“ In gewisser Weise wäre Voeckler sogar froh, das Trikot so bald als möglich wieder loszuwerden. Die Erwartungen an ihn, der Rummel um seine Person, das alles wird ihm zu viel. Am Ruhetag in Limoges bat er den Rezeptionisten seines Hotels, seine Zimmernummer nicht herauszugeben, und er ließ sein Telefon abstellen. Er wollte einfach ein paar Stunden seine Ruhe haben.

Doch solange er in Gelb fährt, wird er Schwierigkeiten haben, diese Ruhe zu finden. In nur fünf Tagen ist der 25 Jahre junge Mann zu einem Symbol geworden. Die geschundene französische Radsport-Seele klammert sich an den kleinsten Hoffnungsschimmer – und da kommt Voeckler gerade recht. Seit den 80er-Jahren, den Zeiten von Bernard Hinault und Laurent Fignon, gibt es keinen französischen Siegfahrer mehr. Publikumsliebling Laurent Jalabert hat seine Karriere beendet, Richard Virenque, einer der bösen Buben des Dopingskandals von 1998, ist nur ein schwacher Ersatz. Und in diesem Frühjahr wurde der Glaube an den französischen Nationalsport erneut durch die Doping-Machenschaft des französischen Teams Cofidis erschüttert. Voeckler hingegen verkörpert Frische, Jugend und Unschuld.

Nun hätte man gerne, dass er auch ein Champion ist. Doch der junge Mann weiß, dass das gelbe Trikot so etwas ist wie ein Betriebsunfall, eine Leihgabe, mit der er und seine Mannschaftskameraden ein paar Tage spielen dürfen. Wenn spätestens bei der ersten großen Pyrenäenetappe am Samstag die Schlacht der Favoriten eröffnet wird, ist für Brioches La Boulangère der Traum vorbei und es beginnt wieder der harte Alltag irgendwo mitten im Peloton.