Von berühmten Lippen ausgespuckt

Ein Dinosaurier auf Tour: Die Stones spielten in Hannover und es war gut. Die Onkelz fielen nicht weiter auf

Hannover taz ■ Das Problem – die „ehemalige“ Naziband Böhse Onkelz im Vorprogramm der Rolling Stones – lässt sich ganz einfach umgehen. Man schlägt am vergangenen Freitag einfach erst so spät am Hannoveraner Messegelände auf, dass man sicher gehen kann, dass jetzt nur noch die Stones auf der Bühne stehen. Gegen 21 Uhr erinnern nur noch betrunkene Jugendliche in schwarzen T-Shirts daran, dass da was war. Wie Wasser und Öl verhalten sich Stones- und Onkelz-Fans: Sie mischen sich nicht. Weder kommt es zu Verbrüderungen noch zu Auseinandersetzungen.

Eines der großen ungelösten Rätsel der Menschheit besteht darin, warum über 50.000 Menschen bereit sind, ein kleines Tagesgehalt – 80 Euro im Stehen, 90 im Sitzen –für ein Konzert auszugeben, das sich am heimischen Fernsehbildschirm gewinnbringender verfolgen ließe: Mag sein, dass der da vorne Mick Jagger ist, der wie ein Jungspund über die Bretter fegt. Das jedenfalls ist auf der riesigen Leinwand zu sehen. Wichtige Ereignisse werden herangezoomt. Eine Kamera am Hals seiner Gitarre dokumentiert die Fingerfertigkeit von Keith Richards.

Weil die „Licks World Tour“ einen Überblick über das Gesamtwerk zeigen soll, spielen die alten Herren drei Blues-Coverversionen aus den Anfängen ohne Verstärkung. Sie klingen, dem Großbühnenbombast mit Backgroundsängerinnen und Bläsersatz entkleidet, doch ein wenig dünn. Geduldig sitzen die stark euphorisierten Fans diesen Hänger aus und warten auf den nächsten Hit, um ihn und sich mit arythmischem Klatschen und synchronen Lippenbewegungen zu feiern.

Der Spektakel-Charakter des Events hält sich in Grenzen, nur vereinzelt gibt es Sperenzchen: Bei „Sympathy for the Devil“ schlägt einem auch bei 200 Meter Entfernung noch Feuer aus riesigen Flammenwerfern heiß entgegen – das unmittelbarste Erlebnis des Abends. Bei „Honky Tonk Woman“ gibt es einen im Manga-Stil animierten Kurzfilm: Eine leichtbekleidete Frau reitet auf der berühmten Stones-Zunge, um irgendwann von den ebenso berühmten Lippen verschlungen zu werden und als ausgesaugte Hülle wieder ausgespuckt zu werden. Prägnanter kann man den verschwitzten Sexismus des Sex-, Bier- und Rock’n’Roll-Lifestyles kaum auf den Punkt bringen. Der Menge gefällt es. Widerrede würde hier eh’ niemand hören. Dieter Wiene