Stammtischparolen paroli bieten

Eine Broschüre liefert Argumente gegen Sprüche wie: „Arbeitslose sind zu faul zum Suchen“ oder „Die soziale Hängematte verleitet zum Drin-liegen-Bleiben“. Die Realität sieht anders aus und ist jetzt im Taschenformat dokumentiert

Bremen taz ■ „Wer will, der findet Arbeit“ ist nur ein Spruch von vielen, der angesichts steigender Arbeitslosenzahlen immer wieder zu hören ist. Dass dieses und viele andere Vorurteile keine Begründung haben, zeigt eine Broschüre, die der DGB und die niedersächsische Landesarmutskonferenz herausgegeben haben. Wozu das gut sein soll, erklärt deren Sprecherin Dr. Antje Richter.

taz: Was hat Sie bewogen, eine solche Broschüre zu machen? Dr. Antje Richter: Die häufig vorhandenen Vorurteile gegenüber Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, die immer wieder geäußert werden. Es gibt regelrechte Hochkonjunktur dieser Vorurteile – nämlich immer dann, wenn Wahlen anstehen. Wir wollten einfach und klar auflisten, was solchen Stammtischargumenten entgegenzusetzen ist.

Die Broschüre ist also eine Argumentationshilfe für die, die sich immer ärgern, dass sie auf die Stammtischparolen nicht kontern können? Nicht nur, aber auch. Das Heft ist natürlich auch für Leute, die sich beruflich damit beschäftigen oder politisch interessiert sind. Sie sollen fundierte Zahlen an die Hand bekommen.

Was ist denn das krasseste Vorurteil, das Ihnen immer wieder begegnet? Ganz persönlich geantwortet: Dass die meisten Arbeitslosen gar nicht arbeiten gehen wollen. Nach dem Motto: Wer will, der findet Arbeit. Das ist nicht so.

Dieser Spruch wird aber auch dadurch untermauert, dass in manchen Medienberichten Arbeitslose gezeigt werden, die sich nur auf Angebote in ihrem erlernten Beruf bewerben und nicht bereit scheinen, in einem anderen, womöglich weniger anspruchsvollen und schlechter bezahlten Bereich zu arbeiten. Tatsache ist, dass 87 Prozent der Arbeitslosen einen Berufswechsel in Kauf nehmen würden. Sie würden einen längeren Weg zur Arbeit akzeptieren, auch unangenehmere Arbeitsbedingungen und – zumindest vorübergehend – einen Lohnabschlag. Es kann sein, dass manche Langzeitarbeitslose eine gewisse Passivität an den Tag legen, nachdem sie viele viele Bewerbungen geschrieben haben und abgelehnt wurden – das ist das eine. Das andere ist, und das wissen viele Leute nicht, dass jeder dritte Arbeitslose gesundheitlichen Einschränkungen unterliegt. In zwei von drei Fällen hindert das die Arbeitslosen, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, die ihrer letzten entspricht. Das erschwert die Wiedereingliederung. Diese gesundheitlichen Einschränkungen haben sie sich allerdings zum größten Teil an ihrem vorherigen Arbeitsplatz geholt, sie waren der Grund für Kündigung oder dafür, dass der Betroffene seinen Arbeitsplatz verlassen hat.

Woran liegt es, dass sich solche Vorurteile wie „Wer will, der findet Arbeit“ so hartnäckig halten? Schwingt da im Hintergrund die eigene Angst mit, dass es einen selbst treffen könnte? Das denke ich auch. Andererseits werden diese Vorurteile in politischen Debatten immer wieder missbraucht, siehe die so genannte Faulenzer-Debatte. Da muss man sich mal beispielsweise für Niedersachsen vergegenwärtigen, dass sich im Jahr 2002 684.000 Menschen arbeitslos gemeldet haben, aber gleichzeitig 660.000 Abgänge aus der Arbeitslosigkeit stattgefunden haben – das ist ein ständiges Kommen und Gehen. Die geforderte Flexibilität ist längst vorhanden. Aber es gibt nicht genügend Arbeitsplätze. Auf eine offene Stelle in Niedersachsen kommen acht bis neun Arbeitslose.

Anderes Thema: der so genannte „Sozialhilfemissbrauch“. In der Broschüre wird eine Bremer Untersuchung zitiert, nach der bei 21.000 SozialhilfeempfängerInnen 99 Fälle von Missbrauch vorlagen, eine Quote von 0,47 Prozent. Gerade die Bremer CDU hat das Thema Sozialhilfemissbrauch im Wahlkampf hochgehalten. Können Sie sich vorstellen, was das soll? Es wirkt plakativ. Die Verunsicherung in der Bevölkerung ist groß und jemand, der den Eindruck erweckt, er würde mit starker Hand durchgreifen, kommt gut an. Das ist gewollt. Anders kann ich es mir nicht erklären. Aber der Missbrauch der Sozialhilfe ist tatsächlich ein ganz großes Märchen.

Wie bewerten Sie denn so genannte Hotlines, wo Bürger mutmaßliche Sozialhilfebetrüger anschwärzen können? Das hat was von Blockwartmentalität. Ich glaube nicht, dass das unserer Gesellschaft dienlich ist. Einer solidarischen Gesellschaft, die wir gerade jetzt brauchen, wirkt das vollkommen entgegen.

Interview: Susanne Gieffers