Maloche im Norden

Celso Curzi, 64 Jahre, Rentner, wohnt in Herne-Wanne und kam 1959 mit einem Arbeitsvertrag und einem Koffer ins Ruhrgebiet

erzählt von CELSO CURZI

Ich bin am 16. November 1959 ins Ruhrgebiet gekommen. Da war ich 20 Jahre alt. Vorher hatte ich auf einem Bauernhof bei Pesaro gelebt. Damals war das ein großer Boom: Fahr nach Deutschland, Geld verdienen. Ein Bekannter aus meinem Dorf, der schon in Deutschland arbeitete, ließ mir einen Arbeitsvertrag von der Firma Heidkamp schicken. Damit bin ich nach Verona zur medizinischen Untersuchungsstelle, wo man mir eine Lesebrille verpasst hat. Weiter ging es nach München. Dort sind wir Italiener auf die Züge verteilt worden: Als die „Gruppe Braunschweig“ aufgerufen wurde, sind zehn Mann aufgestanden, bei der „Gruppe Köln“ standen 30 Mann auf, als sie „Wanne-Eickel“ aufgerufen haben, war ich allein.

Mein Vater hatte mir gesagt: Junge, sei vorsichtig in großen Bahnhöfen, wenn Leute dir helfen wollen, den Koffer zu tragen. Wenn du nicht aufpasst, laufen sie mit deinem Koffer weg. Als ich in Herne aus dem Zug gestiegen bin, kam so ein Kleiner und sagte zu mir auf Italienisch: Komm, ich helfe dir mit dem Koffer! Ich habe solche Angst gehabt! Ich wusste nicht, dass das unser Dolmetscher von Heidkamp war. Wir fuhren dann in einer Isetta nach Wanne zu einer Baracke, wo jetzt die Cranger Kirmes ist. 20 Meter vor der Baracke hörte ich Italiener „cinque, sette!“ schreien. Sie spielten Morra, das italienische Fingerspiel. Da habe ich mich gleich wohl gefühlt.

Ich kam dann in ein Wohnheim in Günnigfeld. Wir waren mit sechs Kollegen auf dem Zimmer. Eine deutsche Frau hat für uns gekocht, Spaghetti und Pasta, so gut wie es ging, aber nicht so gut wie bei meiner Mutter. Mein erster Eindruck war: Es ist kalt, trübe, schwere Arbeit. Mein Vater hatte mir 50.000 Lire mitgegeben: Wenn du dich da nicht wohl fühlst, löse eine Fahrkarte und komme nach Hause. Meine Mutter hatte mir eine kleine Madonna ins Freizeithemd genäht, damit die immer bei mir ist.

Die erste Zeit war schlimm. Da habe ich im Gleisbau gearbeitet, neun, zehn Stunden am Tag. Man musste mindestens einen Monat hier sein und ein bisschen Deutsch können, bevor man unter Tage arbeiten durfte. Die Schotterarbeit war sehr schwer, ich habe nicht den Schotter geschaufelt, der Schotter hat mich geschaufelt. Zum Glück hatte ich die Reserve vom Vater, das war eine Sicherheit. Dann habe ich vier Jahre unter Tage gearbeitet, Gleissenkungen gemacht, erst auf „Zeche Hannover“, Schacht III- IV, dann auf „Zeche Bismarck“, immer Nachtschicht, zwei Schichten. Mit einer Kolonne von 20 Mann haben wir die Gleise abgenommen, eine Strecke von 50 Metern, und sie 20, 30 Zentimeter tiefer gelegt. Morgens um sieben Uhr lief dann die Kohle wieder. Später habe ich dann für Heidkamp als Maschinist, Baggerführer und Raupenfahrer gearbeitet, auch viel auswärts, in Frankfurt, Köln und so weiter.

Ich habe mich hier schnell eingelebt, italienische Kollegen näher kennen gelernt, im Wohnheim hatten wir eine gute Freundschaft. Im Mai 1960 habe ich meine Frau an einer Bushaltestelle kennen gelernt, richtig kennen gelernt haben wir uns dann im Tanzlokal Blumbach in Wattenscheid. Das haben viele Italiener besucht, es gab ausgezeichnete Kapellen, meist aus Italien. Der Besitzer hat die nicht wegen uns Italienern engagiert, sondern weil viele Deutsche schon ein bisschen das italienische Flair kannten, Rocco Granata und die Froboess. 1963 haben wir dann geheiratet. Zwei Schwestern meiner Frau hatten schon zwei Italiener geheiratet.1965 kam unsere Tochter.

Wenn unter Tage was los war, waren immer wir Italiener schuld. Es gab diese Vorurteile: Wir nehmen nicht nur die Arbeit, sondern auch die deutschen Frauen weg. Eine Minderheit hat uns richtig beschimpft: Du kriegst eine Briefmarke auf ’n Arsch – und ab nach Rimini oder Pesaro. Das hat wehgetan. Aber auch eine italienische Minderheit hat provoziert. Es gab Schlägereien in Lokalen, Spannungen wegen Alkohol. Ich bin nie in eine solche Situation geraten. Als 1962 die ersten Türken, Spanier und Portugiesen kamen, waren auf einmal wir Italiener die Geliebten, die anderen die Bösen.

Von den sechs Kollegen aus dem Wohnheim sind nur der Pietro und ich in Deutschland geblieben. Mittlerweile habe ich hier mehr Bekannte als in Italien. Ich bin aus Stolz Italiener und fühle mich als ein Italiener in Deutschland. Aber in Musik und Fußball, da sind wir Italiener besser. 42 Jahre lang habe ich für die Firma Heidkamp gearbeitet. Vor zwei Jahren bin ich vorzeitig in Rente gegangen. Ich hatte 60 Prozent Erwerbsunfähigkeit, die Firma war am Reduzieren, ich bekam eine gute Abfindung. Meine Mutter ist vor vier Jahren gestorben. Aber mein alter Herr ist jetzt 95 Jahre und wohnt immer noch auf dem Bauernhof: Ich fliege heute viel von Düsseldorf nach Rimini und versuche oft bei ihm zu sein, um ihm etwas von dem zurückzugeben, was er mir früher gegeben hat.