Sicherheit statt übereilter Wahlen

In Afghanistan muss die internationale Gemeinschaft mehr staatsbildende Aufgaben übernehmen. Dazu sollten weitere UN-Truppen stationiert werden – außerhalb Kabuls

Eine Wahlniederlage würde nicht nur das Ansehen des Betroffenen, sondern das des Clans beschädigen

Nach den Anschlägen des elften Septembers 2001 war die Bundesregierung sofort bereit, Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Die Entscheidung, den Einsatz jetzt über Kabul hinaus zu erweitern, fällt ihr wesentlich schwerer. „Sehr unsicher“ sei die Lage, argumentieren Bundeswehrkommandeure. Dabei sah es im Dezember 2001 so aus, als bestehe Hoffnung für das kriegsgeschundene Afghanistan. Auf der Petersberger Konferenz waren die untereinander zerstrittenen afghanischen Führer auf einen Friedensfahrplan verpflichtet worden. Das Abkommen legte fest, wie Afghanistan innerhalb der nächsten drei Jahre aus einem Bürgerkriegsland zu einem „normalen“ Staat werden sollte. Leitbild war das Konzept des „demokratischen Wiederaufbaus“, das in den 90er-Jahren bereits in Kambodscha, Mosambik oder Bosnien-Herzegowina angewandt wurde. Es sieht die Verabschiedung einer rechtsstaatlich orientierten Verfassung, baldige Wahlen, die massive, durch internationale Finanzinstitutionen gemanagte Wirtschaftshilfe sowie eine breite Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vor und wird in einer Übergangszeit durch internationale Truppenpräsenz abgestützt.

Dieser Fahrplan könnte sich jedoch als ausgesprochen schädlich entpuppen. Der Friedensprozess ist schon längst von der düsteren Realität in Afghanistan überholt worden. Dennoch halten die Vereinten Nationen und wichtige Mitgliedstaaten eisern an der termingenauen Einhaltung der Vorgaben fest; so etwa an der Loja Dschirga, die im Juni letzten Jahres stattfand, an der Einrichtung einer Verfassungskommission wie an den Wahlen, die für den nächsten Sommer vorgesehen sind. Dahinter steckt die Angst, eine nennenswerte Abweichung könnte das mühsam zusammengebundene Verhandlungspaket wieder aufschnüren und alles gefährden, was an fragiler Stabilität aufgebaut wurde. Dieses Kalkül blendet jedoch aus, dass auch überstürzte Wahlen zur Gewalteskalation beitragen können. So scheiterte Ende 1992 der angolanische Friedensprozess daran, dass die Kriegsparteien noch nicht zu einem Wandel bereit waren und keine Vorsorge für den möglichen Wahlverlierer getroffen worden war. Nicht zuletzt wissen radikale Kräfte in einer aufgeheizten Stimmung beziehungsweise in einer Atmosphäre der Einschüchterung häufig am besten, den Urnengang zu instrumentalisieren; der Balkan kann hier Anschauungsunterricht geben.

Das stärkste Argument der Vereinten Nationen für Wahlen lautet, dass man den Afghanen Demokratie nicht vorenthalten könne. Das ist mittel- und langfristig richtig, doch sollte man nicht den dritten Schritt vor dem ersten gehen. Der Aufbau einer Zivilgesellschaft und politischer Parteien, die Etablierung rechtsstaatlicher Institutionen, die Einübung demokratischer Verhaltensweisen und die Verbesserung der katastrophalen Lebensbedingungen sind wichtige Voraussetzungen für das Funktionieren einer Demokratie. Zu allererst geht es jedoch um eine einigermaßen verlässliche Sicherheitslage. Hiervon ist Afghanistan weit entfernt. Die Macht der Regierung reicht zurzeit kaum über die Stadtgrenzen Kabuls hinaus, das Land wird von unzähligen Kriegsfürsten und lokalen Potentaten beherrscht, der Opiumanbau und -handel blüht, und der willkürliche Einsatz von Gewalt ist an der Tagesordnung. Ganz zu schweigen von Regionen im Süden und Osten des Landes, die aufgrund gezielter Angriffe der Taliban auf NGOs zu „no go areas“ avancierten.

Dass demokratische Prinzipien unter anarchischen Verhältnissen kaum verwirklicht werden können, verdeutlichte bereits die Loja Dschirga im Juni 2002. Nur wenige der etwa 1.600 Delegierten waren frei gewählt, die meisten wurden von den lokalen Machthabern bestimmt. Auch wurde der gesamte Prozess wie die Versammlung selbst von Bestechungen, Repressionen, Drohungen und sogar Attentaten begleitet. Bereits damals mussten die Vereinten Nationen für die Tolerierung dieser Praktiken Kritik einstecken. Bei den Wahlen im Sommer 2004 sind ähnliche Szenarien zu befürchten. Aufgrund der fehlenden Sicherheit werden Wahlbeobachter in den Provinzen nicht viel bewirken können. Die herrschenden Warlords werden das Wahlergebnis diktieren, indem sie Stimmzettel kaufen, fälschen und verschwinden lassen, den Weg zur Wahlurne blockieren und unliebsame Gegner ausschalten. In konservativen Regionen werden Frauen wahrscheinlich gar nicht erst zur Wahlurne vorgelassen werden. Selbst technische Fragen wie die Wählerregistrierung sind noch weitgehend ungelöst. So ist nicht einmal bekannt, wie viele Afghanen es gibt – zumal hunderttausende afghanische Flüchtlinge zurück ins Land strömen. Allein für die Erstellung von Wählerlisten veranschlagen Experten mindestens ein Jahr. Bislang hat sich auch noch niemand gefunden, der die schätzungsweise 85 Millionen US Dollar zur Finanzierung der Wahl übernimmt.

Demokratische Prinzipien taugen wenig unter anarchischen Bedingungen, wie die Loja Dschirga zeigte

Selbst wenn die organisatorischen Probleme gelöst werden sollten, bleiben Zweifel am Sinn baldiger Wahlen. Da soziales Prestige in Afghanistan ein stets umkämpftes Gut darstellt, würde eine öffentliche Wahlniederlage nicht nur das Ansehen des Betroffenen, sondern des gesamten Clans in Frage stellen und vorhandene Konflikte intensivieren. Einer solchen Situation müsste vorgebeugt werden. Besorgnis erregt zudem, dass es nur wenige demokratische Alternativen zur Herrschaft der Warlords gibt. Die moderateren Kräfte sind zerstritten. Auch sind es vor allem die Verlierer der letzten anderthalb Jahre, die politische Parteien gründen, wie etwa der ehemalige Innenminister und Wortführer der Nordallianz Junus Qanuni oder der Islamist und ehemalige Präsident Burhanuddin Rabbani. Im Ergebnis könnten Parteien mit extremen ethnonationalistischen oder islamistischen Programmen sowie die mächtigen Warlords als Gewinner aus der international finanzierten Veranstaltung hervorgehen. Denn sie sind es, die über die besten Netzwerke, finanziellen Ressourcen und umfangreichsten Kontakte verfügen. Die internationale Gemeinschaft dürfte eine Regierung, der nicht der im Westen äußerst populäre, aber in Afghanistan recht schwache Hamid Karsai vorsteht, wohl kaum unterstützen.

Was sind die Alternativen? Soll man, statt das Modell des forcierten „demokratischen Wiederaufbaus“ zu verfolgen, das Land lieber einer „geordneten Anarchie“ überlassen? Marina Ottway und Anatol Lieven von der Carnegie Endowment for Peace haben dies bereits vor mehr als einem guten Jahr gefordert und beriefen sich dabei auf die Erfahrungen in Somalia. Dort sei nach Abbruch der humanitären Intervention Mitte der 90er die Gewalt deutlich zurückgegangen, der internationale Handel habe sich wiederbelebt. Das Konzept der „geordneten Anarchie“ weicht jedoch zentralen Fragen aus: Welche Akzeptanz soll eine Zentralregierung erreichen, die über keinerlei Sanktionsmittel verfügt? Eröffnet nicht ein politisches Vakuum externen Mächten, extremistischen Kräften und skrupellosen Machthabern Spielräume zur Destabilisierung?

Deshalb muss die Konsolidierung in Afghanistan einem dritten Weg folgen. Dabei sollte die internationale Gemeinschaft weiterhin Kernfunktionen des Staates fördern, sprich: Polizei, Militär, Justiz, Erziehung und Gesundheit. Zugleich darf das richtige Motto „Staatsbildung zuerst“ nicht auf eine Zementierung von Konflikten zwischen moderner städtischer Elite und traditionaler Landbevölkerung hinauslaufen. Deshalb ist es unumgänglich, auch auf regionaler und lokaler Ebene direkt mit mächtigen oder respektierten Führern zusammenzuarbeiten, Hilfsleistungen aber an eine schrittweise Transformation zu binden. Statt schneller Wahlen braucht das Land mehr Sicherheit. UN-mandatierte Truppen werden hierzu auf absehbare Zeit beitragen müssen. Auch wenn es eine Illusion wäre, mit einer UN-Mission das Land kontrollieren zu wollen, ist eine Stationierung über Kabul hinaus nötig. Der Sinn der internationalen Präsenz liegt in der symbolischen wie praktischen Rückversicherung, dass man das Land nicht wieder in völliges Chaos abgleiten lässt. Verlässlichkeit und Vertrauensbildung sind daher das Gebot der Stunde; erst dann macht ein Urnengang Sinn. Ihn zu überhasten, wäre unklug; es sei denn, man suchte nach einem Vorwand, sich nach „erfolgreichen Wahlen“ weitgehend aus dem Land zurückziehen zu können. Zurück blieben wohl nur Anti-Terror-Spezialkräfte – und enttäuschte Hoffnungen.

TOBIAS DEBIEL,

Aufgrund der fehlenden Sicherheit werden Wahlbeobachter in den Provinzen nicht viel bewirken können

CONRAD SCHETTER