Bauernopfer statt Vokabeln

Der 17-jährige Arkadi Naiditsch wagt nach seinem vielversprechenden Auftritt als Lokalmatador bei den vom Außenseiter Viorel Bologan gewonnenen Dortmunder Schachtagen ein Jahr Schulpause

von HARTMUT METZ

„Ich bin nie zufrieden und habe kein gutes Resultat erzielt.“ Arkadi Naiditsch zeigt erstaunlich wenig Euphorie für einen 17-Jährigen, der bei den Dortmunder Schachtagen zwar gerade Letzter im starken Sechserfeld geworden ist, aber die vier Partien gegen Weltmeister Wladimir Kramnik (Russland) und dessen Herausforderer Peter Leko (Ungarn) ungeschlagen überstand. Sicher, gegen Kramnik „lief es super“, und die zwei Remis seien auch „ein tolles Gefühl“ gewesen, doch mehr wurmte den Dortmunder Lokalmatador bei seinem ersten Auftritt in der Elite die Niederlage gegen Viswanathan Anand (Indien). „Der war nach seinem Fehlstart angeschlagen – und dann verliere ich nahezu kampflos gegen ihn.“

Das derzeit größte Talent des Deutschen Schachbundes (DSB) ebnete zudem Viorel Bologan den Weg zum Sensationssieg. Dem 31-jährigen Moldawier, der sich mit einem Erfolg beim Aeroflot-Open in Moskau für das Grand-Slam-Turnier qualifiziert hatte, unterlag Naiditsch zweimal. Mit 6,5 Punkten beendete der Weltranglisten-42. überraschend die Serie des sechsfachen Dortmund-Gewinners Kramnik, der mit Anand (beide 5,5) Platz zwei belegte. Bologan hatte sich vor den Schachtagen erstaunlicherweise weniger mit den Bauern auf dem Brett beschäftigt, als sich selbst als solcher betätigt: „Wir haben eine Datscha auf der Krim gekauft, und Viorel hat einen Monat lang die Erde umgepflügt. Er träumt von einem schönen, großen Garten“, berichtete seine Ehefrau Margarita.

Obwohl Naiditsch hinter Teimur Radjabow (5) und Leko (4) mit 3,5 Punkten nur den sechsten und letzten Platz belegte, erwies sich der Weltranglisten-180ste aber nicht als das Schlachtopfer, für das ihn mancher Experte gehalten hatte. Und das trotz mangelnder Erfahrung gegen Topleute. „Für mich war es das erste große Turnier. Radjabow wird schon seit eineinhalb Jahren regelmäßig zu solchen Wettbewerben eingeladen“, verweist der 17-Jährige auf den ein Jahr jüngeren Aserbaidschaner. Vergleiche drängen sich auf, denn beide eroberten unglaublich früh den Großmeistertitel: Naiditsch mit 15, Radjabow gar mit 14. Damit befinden sie sich in der Dimension von Legende Bobby Fischer oder der weltbesten Schachspielerin Judit Polgar.

Ansonsten sind die beiden Nachwuchskräfte völlig verschieden. „Radjabow spielt ganz anderes Schach, immer spektakulär nach vorne, ich spiele dagegen positionell“, erläutert Naiditsch. Im direkten Duell setzte sich jeder der beiden Turnier-Youngster einmal durch. Während der Weltranglisten-45ste fest davon überzeugt scheint, wie der ebenfalls in Baku geborene Garri Kasparow einmal Weltmeister zu werden, ist sich Naiditsch nicht einmal sicher, ob es ihm zu einem Platz unter den ersten zehn langt. „Ach, das mit dem großen Talent ist doch so eine Sache. Ob es ganz nach oben reicht, ist alles Spekulation“, klingt der gebürtige Rigaer weit weniger enthusiastisch. Versuchen will es der ehemalige Schüler-Europameister und Vizeweltmeister dennoch. „Ich lasse mich jetzt ein Jahr vom Unterricht freistellen“, berichtet der Elftklässler, „das kann ich riskieren.“ Ein guter Schüler sei er ohnehin nie gewesen. „Wenn man zwei Stunden Eröffnungen paukt, hat man anschließend keine Lust mehr auf Spanisch-Vokabeln“, erklärt der Hobby-Fußballer, der gelegentlich die Borussen im Westfalenstadion ansieht.

Trotzdem will Naiditsch an die Gesamtschule zurückkehren, sollte er keinen Riesensatz nach vorne machen. „Nur als Top-Ten-Spieler kann man gut vom Schach leben. Alles andere ist zu wenig“, weiß Naiditsch. „Wen interessiert schon die Nummer 50 in der Welt?“, ergänzt sein Betreuer Stefan Koth. „Arkadi muss sehen, ob er künftig Hobbyspieler mit einem geregelten Beruf und Einkommen wird oder Schach-Profi.“ Erstes gutes Geld kann sein Schützling gleich beim „Schach der Großmeister“ am 19. August verdienen. In der WDR-Fernsehsendung trifft Naiditsch auf Jan Timman. Dem ehemaligen Vizeweltmeister aus den Niederlanden hatte er schon 2002 bei den Dortmunder Schachtagen ein 4:4 abgetrotzt.

Ansonsten muss Arkadi Naiditsch wohl wie in den vergangenen sieben Jahren seit der Übersiedlung aus Lettland auf Unterstützung seines Vereins Dortmund-Brackel bauen. Die DSB-Funktionäre warfen Naiditsch und seiner Familie, in der auch die drei jüngeren Schwestern das Spiel sehr gut gelehrt bekamen, mehr Knüppel zwischen die Beine, als dass sie ihr größtes Talent im B-Kader förderten. Dabei bedürfte die überalterte Nationalmannschaft, in der Christopher Lutz mit 32 der Jüngste ist, dringender Blutauffrischung. „Vielleicht klappt es endlich 2004 mit der Einbürgerung“, hört sich Naiditsch auch in diesem Fall desillusioniert an.