die stimme der korrektur
: Streitbare Punkte

Mag sein, dass in irgendeinem Kinderbuch der Welt „streitbare Punkte“ eine wichtige Rolle spielen. Schließlich erfand der französische Autor Luis Pergaud auch Knöpfe, die Krieg führen. Der Kontext, in dem die Punkte uns auf den Monitor geschickt wurden, war jedoch keine Kinderbuchbesprechung, sondern die Erwachsenen-Legende 2010: „Allen wird es besser geh’n, wenn wir der Arbeiterklasse den Hals umdreh’n“ – oder so. Und es ging um die auf der Auktion zur Verscherbelung des Sozialstaats umstrittenen Posten.

Das Wort „Arbeiterklasse“ müssen wir nur selten korrigieren. Nicht, weil es keine Herausforderung darstellen könnte. Vorstellbar sind leicht übersehbare Fehlerchen wie „Arbieterklasse“ oder „Arbeiterkasse“. Schließlich erhalten wir auch regelmäßig „Poltiker“ und „Minster“, was an sich einfache Figuren sind. Aber selbst die anglophilen Schreiberinnen geben der working class, die im 18. Jahrhundert als „Arbeiter-Classe“ und „arbeitende Klasse“ zu uns kam und in der englischsprachigen Presse noch heute regelmäßig zu finden ist, nur ungern Gelegenheit zu einem publizistischen Auftritt.

Dafür stoßen wir zunehmend häufiger auf die ebenfalls dem Englischen entlehnte „Mittelklasse“, also die Schicht der Bevölkerung, die gar keine Klasse ist, sondern nur eine Zwischenexistenz zwischen zweien führt.

Dieser Schicht gehörte zum Beispiel der vor fünfundzwanzig Jahren erschossene erste schwule Bezirksbürgermeister der USA an: Harvey Milk, der „Mayor of Castro Street“ in San Francisco.

Mayors, Bürgermeister, müssen wir schon mal vor einem j bewahren, das sie in Offiziere, Majore, verwandeln würde. Harvey Milk sollte zudem unbedingt davor beschützt werden, allein als Held der homosexuellen middle class gefeiert zu werden. Seine Anhängerschaft, die ihm zum Wahlsieg verhalf, war gerade auch die working class, nachdem er erfolgreich einen Bierboykott gegen tarifbrechende Getränkegroßhändler organisiert hatte.

Aber diese Zeiten sind vorbei. Und bei heutigen schwulen Mayors wie dem Mittelklasse-Bürgermeister vom Potsdamer Platz, Klaus Wowereit, ist Tarifbruch in. Seine Vision für das große Agenda-Jahr in Berlin beschränkt sich auf: Gay Games 2010 – kein Brot, nur Spiele.

Dabei muss ich an ein Graffito denken, das in Hannover lange Zeit an einer Häuserwand zu lesen war. Graffiti werden übrigens nicht mit einem f und tt geschrieben, sondern umgekehrt.

Auf die Wand war jedenfalls fehlerfrei gesprüht: „Krieg den Hütten, Paläste für alle!“    ROSEMARIE NÜNNING