Die Überspringer der Gegenwart

Vor 150 Jahren erschien Band I des Deutschen Wörterbuchs: „A–Biermolke“. Nicht das einzige Werk, für das die Brüder Grimm bekannt sind. In Berlin, wo sie starben, erinnert heute kaum etwas an sie

VON WALTRAUD SCHWAB

Jeder Tag ist ein Brüder-Grimm-Tag. Er beginnt mit der Losung: „Es war einmal.“ Soll heißen: noch voller Zukunft, doch schon Vergangenheit. Erzählt wird in den so eingeleiteten Berichten von all jenen Alltagswundern, deren Spuren bis in die Gegenwart reichen, selbst wenn sie längst aus der Zeit herausgefallen sind.

Jacob und Wilhelm Grimm waren Sammler. Als solche schlagen sie Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie heben etwas auf, ordnen es, weisen ihm eine Bedeutung zu innerhalb ihres Systems. Vermittels ihrer eigenen Anordnung wird das Alte bedeutungsvoll auch im Neuen. Bücher etwa haben die Grimm-Brüder gesammelt. Am Ende ihres Lebens umfasste ihre private Bibliothek 12.000 Bände. An der Humboldt-Universität wird, was von dieser Bibliothek noch vorhanden ist, derzeit restauriert.

Wortsammler waren die beiden Männer, die 1785 und 1786 geboren wurden, auch. Die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens verbrachten sie in Berlin damit, Einträge für das erste Wörterbuch der deutschen Sprache zusammenzutragen. Vor genau 150 Jahren erschien Band I des 32-teiligen Werkes. Deshalb wird derzeit auch ein Brüder-Grimm-Jahr begangen. Die beiden Gelehrten kamen bis zum Wort „Frucht“. Es steht symbolisch für das Ende einer Lebensaufgabe, die kein Ende kennt, sondern von Nachfolgern weitergeführt wird. Erst 1961 kam – verzögert vor allem durch drei Kriege – der letzte Band mit dem Buchstaben „Z“ heraus.

Als Wortsammler sind die Grimm-Brüder selbstverständlich Wissenssammler gewesen. Denn das Wörterbuch fahndet nach der Geschichte, der Bedeutung und der Anwendung jedes Wortes seit Luther bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Epensammler waren die beiden auch. Sie haben mittelhochdeutsche Literatur in die Gegenwartssprache übertragen und die alte Literatur auf diese Weise wieder zugänglich gemacht. Unerwähnt bleiben darf auf keinen Fall, dass sie auch eine Grammatik verfassten, Briefe horteten und in ihren Büchern unzählige gepresste Blumen zurückließen.

Nicht zuletzt aber waren die beiden Männer Märchensammler. Dafür sind die in Hanau geborenen Wissenschaftler bis heute in der ganzen Welt bekannt. Die Märchen, die sie zusammengetragen haben, waren ursprünglich für Erwachsene gedacht. Verführung, Verfehlung, Verrat sind die Themen. Falsch ist die Annahme, die Brüder hätten die Märchen dem Volksmund abgeschaut. Vielmehr haben die beiden sie großenteils in gebildeten Kreisen gesammelt. Zu den Quellen der Brüder zählte etwa die Familie von Droste-Hülshoff. Eine weitere Informantin war die Händlerin Dorothea Viehmann, die zum Märchenerzählen zu Tisch gebeten wurde, wenn sie kam, um der Familie Grimm etwas zu verkaufen.

Von Dorothea Viehmann gibt es ein Porträt, das ein weiterer Grimm-Bruder, der 1790 geborene Ludwig Emil, gemalt hat: Mit übereinander gelegten Händen sitzt Viehmann an einem Tisch und schaut mit ihrem tief gefurchtem Gesicht konzentriert in die Ferne. Das Bild, das tatsächlich Volksnähe vermittelt, wurde im zweiten Band der Märchen an die Stelle gesetzt, wo sonst die Konterfeis der Autoren abgedruckt waren. Jetzt soll die Grimm’sche Märchensammlung in den Kanon des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen werden. Im kommenden Jahr wird darüber entschieden, ob diesem Begehren stattgegeben wird.

Obwohl ganz gegenwärtig, sind Sammler Menschen, die jenseits der Gegenwart wirken. Vielleicht ist dies der Grund, warum die Grimm-Brüder zwar ein Begriff sind, deren konkretes Leben jedoch hinter der Märchensammlung, dem Wörterbuch, der Grimm’schen Grammatik verschwindet.

Mit „Brüder Grimm“ sind Jacob, der Älteste, und der ein Jahr jüngere Wilhelm gemeint. Das Gespann versprach sich immer währende Verbundenheit. „Wir wollen uns einmal nie trennen“, schreibt Jacob als 20-Jähriger an seinen Bruder. „Das ist immer mein Wunsch gewesen, denn ich fühle, dass mich niemand so lieb hat als du, und ich liebe dich gewiss ebenso herzlich“, antwortet der Bruder. Der unverheiratete Jacob lebte die letzten 30 Jahres seines Lebens im Haushalt der fünfköpfigen Familie Wilhelms. Brüder allerdings hatten die beiden noch drei und eine Schwester auch.

Die Eltern der Grimm-Kinder starben früh. Dennoch konnten Jacob und Wilhelm unterstützt von Verwandten Jura studieren. Von der Rechtsprechung fanden sie zur Sprache. Stationen ihres Lebens waren Kassel, Marburg, Göttingen und Berlin. Beide arbeiteten als Bibliothekare, Jacob hatte zusätzliche Anstellungen im diplomatischen Dienst. Als solcher arbeitete er an der Rückführung deutscher Kunstschätze, die Napoleon bei seinen Feldzügen erbeutet hatte. Dabei stieß er in den Tuilerien in Paris auf die Quadriga des Brandenburger Tores. Jacob Grimm soll sich in den Streitwagen gesetzt und dort seine Vesper verspeist haben.

In den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurden die beiden Brüder zu Professoren der Göttinger Universität ernannt. Diese akademische Würde wurde ihnen 1837 aberkannt, weil sie gegen Aufhebung der geltenden Verfassung durch den Thronfolger Ernst August von Hannover protestierten. Sie mussten Göttingen verlassen und gelangten über Umwege und finanzielle Durststrecken, die durch Spenden von Freunden wie Bettina von Arnim überbrückt wurden, im Jahr 1841 nach Berlin. Hier waren die beiden Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Ein erlauchter Kreis von 25 ordentlichen und 15 korrespondierenden Gelehrten war das, die sich gegenseitig über den Stand ihrer neuesten Forschungen unterrichteten. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. unterstützte die Brüder in Berlin finanziell, damit sie an der Ausarbeitung des Wörterbuches arbeiten konnten. Das taten sie bis zum Tod. Wilhelm starb 1859, Jacob vier Jahre später.

Außer den Resten ihrer Bibliothek und den Gräbern auf dem Matthäi-Friedhof in Schöneberg sind Spuren ihres Berliner Lebens kaum mehr zu finden. Keine Statuen, keine Denkmäler, keine Gedenktafeln. Die Häuser, in denen sie gewohnt haben, existieren nicht mehr. Die noch erhaltenen Erinnerungsstücke aus ihrem Haushalt sind in Museen über ganz Deutschland verstreut. Die Geschichte ihres Lebens endet ganz leicht und unauffällig in einer Fülle, die in der Idee vom „Es war einmal“ aufgeht.

Ausstellung zum 150. Jahrestag von Band I des Grimm’schen Wörterbuchs, bis 28. 8. 2004 im Foyer der Humboldt-Universität. Jeden Dienstag findet um 17 Uhr ein Stadtspaziergang zu „Spuren der Brüder Grimm in Berlin“ statt, Treffpunkt beim Helmholtzdenkmal im Hof der HU. www.grimmnetz.de