„Anweisungen muss man denen nicht geben“

Dass manche Staatsanwälte und Richter öfter mal das Augenmaß verlieren, ist für Anwaltsverein-Chef Wolfgang Kaleck nichts Neues. Die Anordnung und Dauer der Untersuchungshaft hält er in vielen Fällen für rechtswidrig

taz: Herr Kaleck, bis zu zwei Jahre ohne Bewährung für Straftäter am 1. Mai – sind Sie über diese saftigen Strafen überrascht?

Wolfgang Kaleck: Die Tendenz zu deutlich höheren Strafen hat sich leider bereits in den vergangenen Jahren abgezeichnet. Letztes Jahr wurde ein Angeklagter zu 3 Jahren und 3 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Überrascht hat mich nur, dass dieses Mal beim 1. Mai vergleichsweise wenig passiert ist und trotzdem viele Haftbefehle erlassen und hohe Strafen verhängt wurden.

Richter und Staatsanwaltschaft begründen das mit der Abschreckung. Dürfen sie das?

Generalprävention ist als einer der ältesten Strafzwecke erlaubt, aber nur im Bereich der so genannten schuldangemessenen Strafe. Das Problem ist, wie beliebig mal die eine oder die andere Tätergruppe besonders hart verfolgt wird – je nach Zeitgeist oder Laune der Staatsanwälte und Richter. In Berlin scheint die Justiz den Schwerpunkt mal wieder auf die Verbrechensbekämpfung bei 1.-Mai-Demonstrationen zu legen.

Sie finden sich also damit ab, dass die Justiz – mal böse formuliert – zum Handlanger des Innensenators wird.

Ich denke nicht, dass es da irgendwelche Befehlsketten gibt. Man sollte auch nicht Verschwörungstheorien aufstellen. Die zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft ist bei allen Eingeweihten dafür bekannt, dass sie öfter mal das Augenmaß verliert. Und auch bei einigen Richtern weiß man: Sie artikulieren ganz klar ihre eigenen Überzeugungen. Denen muss man gar keine Anweisungen von oben geben.

Über 100 Verdächtige wurden in U-Haft gesteckt, viele sitzen immer noch. Ist das auch eine unabhängige Entscheidung der Richter?

Das glaube ich schon, das macht die Sache aber nicht besser. Es ist zu oft Untersuchungshaft verhängt worden, ohne dass die Gründe wirklich vorlagen. Aber auch das ist kein Novum. Wir beklagen als Strafverteidiger schon seit einiger Zeit, dass insgesamt zu schnell und zu viel U-Haft verhängt wird.

Als Verteidiger müssen Sie doch Möglichkeiten haben, dieser Willkür etwas entgegenzusetzen?

Da meines Erachtens die Anordnung und Fortdauer der U-Haft in vielen Fällen rechtswidrig war, sollten eigentlich alle Instanzen inklusive des Verfassungsgerichts ausgeschöpft werden. Aber das dauert halt seine Zeit. Das Problem ist der Druck, der auf den Häftlingen lastet. Jeder Verteidiger versucht, seinen Mandanten rauszukriegen. Und wenn keine Haftverschonung ausgesprochen wird, drängt der Verteidiger auf einen schnellen Verhandlungstermin. Manche erklären sich dann auch für ein Geständnis bereit.

Was werden Sie tun?

Es gilt, diese Praxis in der Öffentlichkeit anzuprangern. Denn solange die mehrheitliche öffentliche Meinung diese teilweise rechtswidrige Justiz der Staatsanwälte und Richter deckt, wird sich auch nichts ändern.

Sie klingen resigniert.

Ganz und gar nicht. Ich freue mich, dass sich mal wieder jemand für diese strukturellen Probleme interessiert. Es sind auch die Parteien gefordert, also auch PDS und Grüne. Insbesondere, wenn man an die Festnahmen bei der Antifa-Demo am Nachmittag des 1. Mai denkt. Es kann ja nicht angehen, dass im Parlament und zu Feierstunden dem Rechtsextremismus der Kampf angesagt wird und dann die Teilnahme an einer Antifa-Demo zu einem so hohen Risiko wird. INTERVIEW: FELIX LEE