der fünfundsiebzigste von EUGEN EGNER
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Vor dem Zubettgehen fiel mir plötzlich ein, dass in diesem Monat der fünfundsiebzigste Geburtstag eines bedeutenden zeitgenössischen deutschen Autors war. Mich würgte jäh Angst, dieses wichtige Ereignis könnte schon stattgefunden haben und ich hätte es, wie alles andere auch, vergessen. Das wäre schlimm gewesen, denn mit meinem Nichtgratulieren hätte ich mich schändlich blamiert. Hastig schlug ich das Geburtsdatum in meinem Autorenlexikon nach. Da stand: „morgen“. Ich hatte noch mal Glück gehabt.

Für eine Karte war es allerdings zu spät, daher verfasste ich, als Verfechter obsoleter Technologien, ein handschriftliches Gratulationsfax. Das sah recht artig aus und las sich unverfänglich. Kurz und knapp, keine bemüht originellen Vertraulichkeiten. Am nächsten Morgen traf ich die technischen Vorkehrungen zur Übermittlung. Ich bekam jedoch den Eindruck, der Faxanschluss des zu Beglückwünschenden sei dauernd besetzt, weil pausenlos Gratulationsfaxe einliefen. Oder, dachte ich mir dann, vielleicht ist seine Faxrolle zu Ende, oder er hat sogar inzwischen eine andere Nummer? Bei der Auskunft erfuhr ich, dass der betreffende Teilnehmer gar keinen Faxanschluss besaß! Wahrscheinlich hatte er vor fünf Jahren, gleich nach dem Empfang meines Gratulationsfax zu seinem Siebzigsten, das Gerät abgemeldet! Was jetzt? E-Mail-Alfanzereien kommen mir, einem Mann des 20. Jahrhunderts, nicht ins Haus, also musste ich anrufen. Einen Telefonanschluss würde der Autor ja wohl haben. Laut Auskunft stimmte die Rufnummer mit der überein, die ich von ihm hatte.

Bevor man Leute anruft, die ungleich bedeutender sind als man selbst, muss man sich Mut antrinken. Und so kam es, dass ich das Geburtstagskind stinkbesoffen anrief. Der bedeutende Autor meldete sich mit vollem Mund, offenbar Geburtstagskuchen kauend. Was denn los sei, fragte ich, wo er den gerade herkäme, wie er über Afrika denke, welches Haarspray er verwende et cetera, lauter solche Schriftstellerfragen. Seine Antwort gar nicht erst abwartend, setzte ich mich ins Taxi und ließ mich zu ihm fahren. Die Fahrtkosten würde, hoffte ich, der Suhrkamp-Verlag übernehmen. Mein Gastgeschenk war ein Gummidelfin.

Als der bedeutende deutsche Autor die Tür öffnete, waren seine Haare schlohweiß, so intensiv hatte ich geklingelt! „Sie sind doch nicht Gomringer oder Bachmann?“, fragte er kauend. Da konnte ich ihn beruhigen, und er bot mir das „Du“ an, aber erst nachdem ich ihm vorgemacht hatte, wie Uwe Johnson gestorben ist. Damit kam Bewegung in die Sache. Er nahm mir meine Totenmaske weg und ich ihm den Hindenburg-Fifi. Und er lachte wie ein Menschenfresser bei offenem Fenster. „Mir verrutscht der Humboldt!“, schrie er immer wieder.

Im Badezimmer, wo noch vieles wie früher war, führte er mir auch seine neu erworbene KZ-Aufseher-Trompete, ein Abo-Köder der FAZ, vor. Da kamen Fledermäuse heraus! Gegen Ende wollte er mir unbedingt erzählen, wie viel er an der Börse für seine alten Stasi-Aktien gekriegt habe, konnte aber nur noch einen Referenzton zwischen den Fingern hindurch ausstoßen. Ich fühlte, wie ich auch langsam fünfundsiebzig wurde.