unter schock
: Das Risiko turnt mit

Der folgenschwere Trainingsunfall des Cottbusers Ronny Ziesmer wirft einen Schatten auf das Turnen. Wie gefährlich ist die Sportart eigentlich?

Der Cottbuser Turner Ronny Ziesmer wird nach seinem schweren Trainingsunfall wahrscheinlich dauerhaft an Armen und Beinen gelähmt bleiben. „Es ist davon auszugehen, dass die Lähmung so bleiben wird“, sagte gestern Stephan Becker, Oberarzt im Unfallkrankenhaus Berlin, in das Ziesmer nach seinem verhängnisvollen Sturz, bei dem er sich einen Bruch der Halswirbelsäule und Verletzungen des Rückenmarks zuzog, eingeliefert wurde. Die deutsche Turngemeinde hat das in einen Schockzustand versetzt, denn das Schicksal des jungen Mannes wirft einen Schatten auf eine ganze Sportart: Wie gefährlich leben Turnerinnen und Turner, die bei internationalen Wettbewerben wie Olympia mitmischen wollen?

Das Wort Zirkus hat sich in den letzten Jahren in vielen Sportarten breit gemacht. Es gibt den Formel-1-Zirkus oder den alpinen Ski-Zirkus. Beim Turnen als Hochleistungssport ist dieses Wort aber am ehesten angebracht: Turnerinnen und Turner sind Artisten, die Salti und Schrauben drehen, die Sprünge und Bewegungen vollführen, die dem Betrachter nicht selten den Atem stocken lassen. Akrobaten am Boden, am Barren. An Reck und Ringen. Am Pauschenpferd, am Schwebebalken – oder eben beim Sprung über den Tisch, der jetzt für Ronny Ziesmer einen solch verhängnisvollen Verlauf nahm. Die Athleten katapultieren ihre Körper meterhoch in die Luft, wirbeln über die Matten, scheinen mitunter die Schwerkraft außer Kraft zu setzen. Dass das nicht ungefährlich sein kann, erkennt jeder, der einmal zugesehen hat. Aber auch jene, die sich im Schulturnen an Barren und Reck gequält haben, dürften einen Geschmack davon bekommen haben, mit wie viel Mut und Überwindung die Ausübung dieser Sportart verbunden ist.

Die Verletzungsgefahr? Ist relativ. Wo Schülern blaue Flecken drohen, gehen Hochleistungsturner ein ungleich höheres Risiko ein. Weil sie höher springen, schneller wirbeln, die Reckstange wieder erwischen müssen, nachdem sie einen Salto rückwärts mit Schraube gedreht haben. Kleine Fehler können schlimme Folgen haben – wer aus mehr als drei Metern Höhe nicht auf den Füßen landet, hat ein Problem.

Vergleiche nutzen da nicht viel: Rennfahrer, die sich ins Cockpit eines Formel-1-Boliden setzen, riskieren genauso ihr Leben wie Skirennläufer, die sich in die steilsten Hänge stürzen. Und überall gilt: Wenn schwere Unfälle geschehen sind, ist die Diskussion groß. Turner leben gefährlich – und verdienen noch nicht einmal viel Geld dabei.

Die rasante Entwicklung des Kunstturnens in den vergangenen 30 Jahren spielt in dieser Diskussion natürlich eine wichtige Rolle. Der legendäre Gienger-Salto, mit dem Eberhard Gienger 1974 Reck-Weltmeister wurde, gehört inzwischen zum Repertoire eines mittelmäßigen Zweitliga-Turners. Höher, schneller, weiter – diese Steigerungsformen haben das Turnen seitdem geprägt. Weltmeister und Olympiasieger könnten heutzutage problemlos in jedem Spitzenzirkus auftreten. Die Entwicklung der Turngeräte hat ihren paradoxen Anteil daran: Bruchsichere Reckstangen sind elastischer und erlauben noch spektakulärere Flugteile. Niedersprungmatten, die Gelenke und Wirbel schonen sollen, verleiten zu risikoreicheren Abgängen. Der Sprungtisch, der vor kurzem das Pferd abgelöst hat, vergrößert die Sicherheit beim Abdruck, ermöglicht aber auch Salti und Schrauben, die bisher undenkbar waren.

Andererseits: Kein verantwortungsbewusster Trainer würde seinen Athleten Übungsteile probieren lassen, für die der nicht die entsprechenden körperlichen und bewegungstechnischen Voraussetzungen hat. Auch Ronny Ziesmer hat den Sprung, bei dem er verunglückt ist, vorher tausendmal geübt – und sich nicht dabei verletzt. Dass das Turnen als besonders risikoreiche Sportart in Deutschland wie in keinem zweiten Land unter scharfer Beobachtung steht, hat seinen Teil dazu beigetragen, dass Trainer und Funktionäre sensibel geworden sind. Sind junge Turner in einer bestimmten Wachstumsphase besonders verletzungsanfällig, dürfen sie bestimmte Bewegungen gar nicht mehr machen. Und es wurden schon Turnerinnen auf ärztlichen Rat aus Kadern verbannt, die eine schiefe Wirbelsäule – aber noch kein einziges Mal Schmerzen hatten.

Eigentlich eine positive Entwicklung in einer Sportart, in der in Ländern wie Nordkorea, Rumänien und anderen ehemaligen Ostblockstaaten, aber auch in Spanien und den USA weniger zimperlich gehandelt wird. Nicht wenige Experten behaupten, dass diese Betonung des Gesundheitsaspekts mit dafür verantwortlich ist, dass die deutschen Turnerinnen und Turner im internationalen Vergleich allenfalls noch zweitklassig sind. Der Unfall von Ronny Ziesmer dürfte diese Sportart, die der Turnvater Jahn Anfang des 19. Jahrhunderts erfunden hat, wieder ein Stück zurückwerfen. JÜRGEN ROOS