Spiel mir das Lied vom Tod

Aids macht in Deutschland niemand mehr hysterisch. Ist doch nur eine Krankheit unter vielen. Ein dummes Missverständnis

VON JAN FEDDERSEN

Marco Spielmann kennt viele Geschichten aus jener Epoche. Er war damals kaum geboren, wuchs im Mecklenburgischen auf und schaffte sein Coming-out erst lange nach der Wende. Der 24-jährige Informatikstudent, der auch deshalb heute in Berlin lebt und seine Ausbildung absolviert, weil in der Hauptstadt Schwules nun echt kein Aufreger mehr ist, weiß, dass früher alles wilder war. Viel wilder. Sex, nichts als Sex. Mit und ohne Drogen. Was zählte, war der nächste Fick, man war jung, man zählte die Affären im Dutzend und den Liebeskummer besser nicht. Wer auf sich hielt, fuhr in die weite Welt, gern nach New York, häufig nach San Francisco. Marco Spielmann, der im übrigen nicht so heißt, weil er lieber unerkannt bleiben möchte, ahnt mehr, als dass er nachfühlen kann, was damals in den schwulen Szenen so los war. Und dass es Mitte der Achtziger vorbei war, schlagartig. Aids suchte die gay community heim, eine Immunschwächekrankheit, die in erster Linie durch Sex übertragen wurde – ein Schlag für eine Szene, deren Identität sich weitgehend über die Kraft der sexuellen Entfaltung definierte: immer öfter, immer mehr, immer ekstatischer.

Die Fabeln von gestern

All diese Fabeln aus dem Reich des Gestern sind zu einer Kabbala der schwulen Szene geronnen, Überlieferungen, die in Kneipen und Bars, in Saunen, in der Literatur und in den Szeneillustrierten kolportiert werden: Ein Märchen vom Damals, als noch nichts den Weg in den chronischen Orgasmus behinderte, als konservative Familienideen noch nicht szenegängig waren und der sexuelle Freischärler der Held auf jeder nächtlichen Spielfläche war.

Und diese Erzählung scheint in Deutschland wieder hörenswert zu werden – denn die Infektionszahlen in Sachen HIV steigen wieder, wenn auch nur leicht, wie das Robert-Koch-Institut zu notieren hat. Alarmierend ebenso, dass klassische Geschlechtskrankheiten wie die Syphilis oder die Gonorrhoe, seit Propagierung des Kondoms fast ausgestorben, wieder registriert werden: vor allem in den Metropolen, also in Berlin, Frankfurt am Main, Köln, Hamburg und München. Und Marco Spielmann ist einer von ihnen, der sich von der eigenen Unvorsicht hat hinreißen lassen: Vor zwei Jahren musste er eine Syphilis behandeln lassen. Und seit drei Monaten weiß er, dass er HIV-positiv ist.

Nur ein einziges Mal, sagt er, habe er ungeschützten Sex gehabt, in der Sauna. Ihn habe es einfach gereizt, es ohne Kondom zu tun, ohne Schutzhülle, die ihn trennt vom begehrten Partner. Er habe es ausprobieren wollen, und außerdem sah sein Gegenüber, auch wenn er seinen Eindruck nur in einem dunklen Dampfbad gewinnen konnte, gesund aus. Meint er. Wie er dies denn hätte prüfen können? Wenn man jemanden geil fände, sagt er, dann müsse man auch Vertrauen haben wollen.

Binnen Sekunden.

Der kleine, geile Tod

Und wer kennt das nicht: In den Sekunden der Wollust das Risiko der Grenzüberschreitung wählen? Haben nicht die Franzosen für den Orgasmus die Wendung vom petit mort – vom kleinen Tod, von der Symbiose mit dem Allerletzten? Und lebt nicht auch das Gros der (sexuellen) Literatur von der Anfechtung durch das Sexuelle – das Tödliche, das Ende von Allem inklusive? Das Sexuelle als Mittel, einen öden Alltag zu suspendieren? Möglicherweise sei das so, meint Spielmann, aber bei ihm habe es sich um Liebe gehandelt – und der Schwanz des anderen sei doch auch nicht lange in ihm gewesen, und seiner im anderen auch nicht ewig.

Und wie im Klischee sagt der junge Schwule, dass es doch Mittel gäbe, Aids vielleicht nicht zu tilgen, aber doch in Schach zu halten. So wie Zuckerkranke sich ihr Insulin verabreichen, so geben sich schwule HIV-Infizierte den täglichen Medikamentenmix.

Und eben dies ist ein Missverständnis. Was junge Schwule wie Marco Spielmann nicht mehr kennen, sind die Gesichter der HIV-Infizierten an ihrem Krankheitsende, wenige Tage vor ihrem Tod. Ausgemergelte Figuren, die einfach hinweggerafft wurden. Eine HIV-Diagnose war – bis auf wissenschaftlich nicht näher geklärte Einzelfälle – weitgehend identisch mit der Ankündigung eines baldigen Todes. Seit der Welt-Aids-Konferenz vor acht Jahren in Vancouver sind diese Krankheitsverläufe selten geworden; man kennt sie nur noch aus Afrika – aus einer Gegend, wo es Gesundheitssysteme wie in Mitteleuropa nicht gibt und wo Medikamentenversorgung eher zufällig funktioniert. Und meistens eben nicht.

Aids ist aus dem öffentlichen Bewusstsein in Mitteleuropa jedenfalls fast verschwunden. Und das nicht ohne Grund, denn die Infektionszahlen konnten auf einen so niedrigen Stand wie nirgends in der (offenen) Welt gebracht und niedrig gehalten werden. Die Mortalitätsrate ist seit 1996 hierzulande um drei Viertel gesunken – ein Sieg des fast propagandahaften Marketings seitens der Gesundheitsministerien und der Aidshilfen, Fernsehspots (mit Hella von Sinnen) und solidarischen Gesten im Fernsehen (Lea Rosh trinkt aus dem Glas eines HIV-Infizierten) inklusive. Was tatsächlich Sorgen macht, sind Phänomene, die durch keine Aufklärung mehr erreicht werden können, möglicherweise unabhängig von der (beschnittenen) Finanzierung der Aidshilfen: es nennt sich Barebacking, ein Wort aus dem Amerikanischen, was in etwa ungesattelt bedeutet und im schwulen Zusammenhang Sex ohne Kondom meint. Ursprünglich war es ein Code unter HIV-Infizierten – wer schon vom Aidserreger geplagt ist, kann auch ohne Gummi. Davon abgesehen, dass diese Annahme irrig ist, denn es gibt viele verschiedene HIV-Erreger, die sich unter HIV-Positiven kumulieren können, hat sich dieses Barebacking gerade unter jungen Schwulen (im Internet) als Code für einen Sex herauskristallisiert, der ungeschützt weil hemmungslos sein will. Ein letztes Refugium, so sagte es auch der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker schon vor zehn Jahren, in dem das Sexuelle noch sein Verbotenes bewahrt habe.

Denn überall dort, wo Safer-Sex-Kampagnen Erfolg hatten – in den säkular-kapitalistischen Ländern –, hat das Sexuelle den Nimbus der Grenzüberschreitung fast eingebüßt. Und Barebacking wäre demnach ein inszeniert gesetztes Zitat des einstigen Thrills. Barebacker tun, was sie tun, bewusst; und sind, alles in allem, auch Selbstmörder aus Angst vor dem Tod. Junge Schwule wie Marco Spielmann hingegen sind allenfalls naiv – freilich in einer Art und Weise, die sie sich vor zehn Jahren, als Aids noch echten Horror in der Nachbarschaft bedeutet hatte, nicht erlaubt hätten.

Pillen helfen. Aber wie lange?

Tatsächlich aber verspricht die pharmazeutische Industrie keineswegs, dass sie in Bälde in der Lage sein könnte, ein Mittel gegen die Tilgung der Immunschwächekrankheit zu entwickeln. Auch wenn ihre großformatigen Anzeigen in Szeneillustrierten (wie Siegessäule oder Hinnerk) suggerieren, HIV sei irgendwie wie ein unausrottbarer Schnupfen: Offen bleibt, wie HIV-Positive langfristig auf die Medikamentenmixturen reagieren. Kurz: Ob man mit pharmazeutischer Hilfe alt werden kann.

Für Marco Spielmann ist dies noch keine Frage, er hat nicht einmal sein Studium beendet. Und noch weiß er auch nicht, ob er sich schon jetzt, frisch infiziert, noch ohne gesundheitliche Folgen mit Medikamenten versorgen sollte. Die Wissenschaft ist sich nicht einig, ob ein früher Chemiekampf gegen den Erreger gut oder weniger günstig ist. Ihm bleibt nur die Gewissheit, dass seine Idee, es einmal so zu tun, wie die Überlieferungen aus der Szene aus alten, mehr als 20 Jahre zurückliegenden Tagen berichten, sein Leben unkalkulierbarer machte.

Letztes Jahr, das hat ihn erschreckt, ist ein Freund eines Freundes im Breisgau an den Folgen von Aids gestorben. Mehr als zehn Jahre war der positiv, 1997 hat er begonnen, Antiaidsmittel zu nehmen. Im Sommer vorigen Jahres haben auch diese dem viralen Terror nicht mehr standhalten können. Multiresistent, Marco Spielmann hat sich das Wort gemerkt, haben die Ärzte den pharmazeutischen Status des 49-jährigen Gastronomen genannt. Nichts konnte mehr helfen. Der Sterbende soll gesagt haben, auch dies ist dem jungen Mecklenburger in Berlin erinnerlich geblieben, dass 49 zu werden doch besser sei als nur 41. Vielleicht sei es nun genug mit dem Leben. Bis dahin hat Marco Spielmann, der junge Schwule, aufgehoben in einem Gesundheitssystem, das Menschen wie ihm das Spiel mit dem Tod leichter macht, noch sehr viel Zeit.