Das Kreuz mit dem Band

Die Bundesligasaison ist erst zwei Spieltage alt, und doch hat schon sechs Spieler die wohl schwerste Fußballerverletzung ereilt. Experten rätseln, warum dem so ist. Eine Antwort wissen sie nicht

von DANIEL THEWELEIT

Als Jens Nowotny im Halbfinale der Champions League 2002 das Kreuzband riss, stockte den Zuschauern der Atem. Reiner Calmunds Gesicht wurde bleich, sofort war klar: Der fällt für das Saisonfinale aus, die Nationalmannschaft muss bei der WM auf ihren Abwehrchef verzichten, und der Spieler verpasst die vermeintlichen Höhepunkte seines Fußballerlebens. So dramatisch war keiner der Kreuzbandrisse, die in der laufenden Bundesligasaison passiert sind, wirklich spektakulär aber ist ihre Quantität. Insgesamt sechs Spieler hat diese wohl schwerste Fußballerverletzung seit der Sommerpause nun schon ereilt – demgegenüber stehen 11 Kreuzbandrisse in der gesamten Saison 2000/2001, ein Jahr später waren es 12 und 15 in der Spielzeit 2002/2003.

Auffällig ist, dass dem Trauma in diesem Jahr meist vollkommen harmlos wirkende Situationen vorausgingen. Dortmunds Torsten Frings spielte gar das Spiel noch zu Ende, Kaiserslauterns Hany Ramzy riss das Band ohne Einwirkung des Gegners, er ging noch nicht einmal zu Boden, Frings’ Mannschaftskollege Guy Demel passierte das Missgeschick in einem Allerweltszweikampf, und auch über den Trainingsunfall von Jiayi Shao von 1860 München berichten Augenzeugen: „Sah eigentlich harmlos aus.“

Als der Frankfurter Kapitän Jens Keller am vergangenen Sonntag bei der 1:2-Niederlage gegen Leverkusen nach einer Flanke Schmerzen im linken Knie verspürte und sich auswechseln ließ, befürchtete man angesichts der Horrormeldungen der vergangenen Wochen auch schon das Schlimmste. Bei Keller scheint es sich jedoch um eine Knorpelabsplitterung zu handeln, ihm bleibt die niederschmetternde Diagnose vorerst erspart, die Schalkes Jörg Böhme und Dortmunds Evanilson bereits in der Vorbereitung hinnehmen mussten: Kreuzbandriss – ein halbes Jahr Pause.

Die Ärzte rätseln nun über die Ursachen dieser klubübergreifenden Pechsträhne, von der Borussia Dortmund am heftigsten betroffen ist. „Wir schauen im Augenblick, was in dieser Saison anders ist“, sagt Dr. Heinz-Jürgen Eichhorn, der renommierteste Kniespezialist Deutschlands. Er operierte Jens Nowotny, die drei aktuellen Dortmunder Fälle – und hat eine interessante Theorie. „Wir prüfen, ob die Anordnung der Horizontal- und Vertikalstollen der neuen Schuhserien von Nike und Adidas eine Rolle spielen“, so der Arzt aus Straubing. Eichhorn vermutet, dass der verbesserte Griff der Schuhe nicht mehr den jahrelangen Bewegungserfahrungen der Spieler entspreche. „Der Steuerungsapparat denkt, der Fuß rutscht noch, in Wahrheit steht er aber schon.“ In der amerikanischen Football-Liga (NFL) konnte vor einigen Jahren nach einer biomechanischen Testreihe schon einmal eine Serie von Kreuzbandrissen mit ähnlich verbesserten Schuhen erklärt werden. Man griff wieder zum alten Material.

Der Kaiserslauterer Mannschaftsarzt Dr. Hans-Werner Schmalenbach bezweifelt dennoch, „dass es diesen Zusammenhang mit den Schuhen gibt“. Hany Ramzy habe ein „uraltes Modell von Nike“ getragen, erzählt er und ist überzeugt: „Das ist eine ganz zufällige Häufung.“ Jiayi Shao trug Puma, die Ursache allein bei den Schuhen zu suchen, scheint also in der Tat etwas kurzsichtig. Dr. Thomas Pfeifer, Leverkusens Klubarzt, sagt, dass „solche Verletzungen besonders in psychisch angespannten Situationen auftreten. So gesehen ist der Saisonbeginn schon ein prädestinierter Zeitpunkt. Die Spieler kämpfen um Stammplätze, das kann entscheidend sein für das ganze Jahr.“

Auch eine Studie, in deren Rahmen 6.000 Verletzungen aus den drei höchsten englischen Fußball-Ligen erhoben wurden, stützt diese Theorie. Zu Saisonbeginn sei das Verletzungsrisiko der Bänder erhöht, weil der Körper nach der Pause noch nicht an die Belastung gewöhnt sei, und „am Ende erhöht sich das Risiko erneut, weil die Spieler konditionell und koordinativ nicht mehr auf der Höhe sind“, so die britischen Mediziner.

Der plötzliche Anstieg in diesem Jahr lässt sich so aber immer noch nicht erklären, denn den gegenwärtigen Rhythmus praktizieren die Profis seit Jahren. Also doch die Schuhe? Die Mediziner rätseln. Vielleicht muss man tatsächlich auf jene Ursache zurückkommen, die in diesen Tagen schuld ist an fast allem Unglück, das in diesem Land passiert. Wegen der wirtschaftlichen Durststrecke „müssen die Klubs ihre Kader verkleinern, die Spieler geraten unter Druck, die Gehälter sind leistungsbezogener und der Stress sowie die Bereitschaft, kleinere Blessuren zu ignorieren, nimmt zu“, meint Schmalenbach.

Viele Theorien sind das, die allesamt sinnig klingen und alle wohl auch eine gewisse Rolle spielen. Pfeifer bringt es zuammenfassend so auf den Punkt: „Es ist hoffnungslos, eine einzelne Ursache zu finden. Jeder Verletzung liegt irgendeine Summation unglücklicher, manchmal winziger Ereignisse zugrunde“.