Der Mittelstand wird geprügelt und die Kaufkraft geschwächt

Die Schweiz hat jahrelange Erfahrung mit einem Kopfpauschalen-Modell: Gerechtigkeit hat es allerdings im zweitteuersten Gesundheitssystem der Welt nicht geschaffen

BERN/BASEL taz ■ Nein, sagt Ruth Dreifuss, „als Exportschlager würde ich unsere Kopfpauschale nicht bezeichnen. Da verkaufen wir doch lieber Schokolade.“ Die Frau muss es wissen, denn sie war Schweizer Gesundheitsministerin, als die Eidgenossen sich 1996 ein neues Gesundheitssystem verpassten. Vorher gab es hier ein ungeregeltes, privatwirtschaftliches Modell, in dem Kranke, Frauen und Alte höhere Prämien bezahlen mussten als Gesunde, Männer und Junge. Viele waren gar nicht versichert. Dagegen war die einheitliche Kopfpauschale ein Riesenfortschritt. Erstmals war die ganze Bevölkerung in einem System versichert, das allen den gleichen Zugang zu hochwertiger Leistung bot. Deshalb verteidigt die ehemalige Bundesrätin Dreifuss die Kopfpauschale auch gegen naseweise Nachfrager aus Deutschland. Andererseits, dies leugnet hier niemand, ist die Schweizer Kopfpauschale schlichtweg zu bürokratisch.

Dabei besticht das Prinzip der Kopfpauschale erst einmal durch Einfachheit: Kosten geteilt durch Bevölkerung macht Prämie. Auch in der Schweiz fand es allerdings eine Mehrheit nicht gerecht, „dass die Kioskbetreiberin das Gleiche zahlen muss wie der Fabrikdirektor“, erklärt Jacqueline Fehr, sozialdemokratische Gesundheitspolitikerin. Deshalb sah der Schweizer – wie jetzt der deutsche – Ursprungsplan vor, dass die Belastung jedes Haushalts einen bestimmten Prozentsatz vom Einkommen nicht überschreitet. Die so genannte Prämienverbilligung wird aus Steuergeldern erbracht und kommt mittlerweile einem Drittel der Bevölkerung zugute. Für dieses Jahr sind 3,5 Milliarden Franken (2,3 Milliarden Euro) für die Verbilligung vorgesehen; insgesamt werden in der Krankenversicherung 15 Milliarden Franken (9,8 Milliarden Euro) umgelegt.

Doch der Sozialausgleich ist sehr schwer zu organisieren, und so schafft er neue Ungerechtigkeiten. Erstens betreiben alle 26 Kantone eine andere Form der Verbilligung – die sich auch wieder nach den unterschiedlich hohen Prämien der fast 100 Krankenversicherungen richtet.

Die Höhe der Kopfpauschale variiert von 180 Franken (118 Euro) im ländlichen Appenzell bis zu 400 Franken (263 Euro) in Genf. Zweitens dienen die teils nicht ehrlichen, teils undeutlichen Angaben über das zu versteuernde Einkommen beim Finanzamt als Grundlage der Zumessung. Drittens folgt aus der Regel, wonach der Kanton zu jedem Franken Verbilligung vom Bund 50 Rappen dazu legen muss, dass die Kantone gar nicht alles Geld vom Bund abrufen – und die Versicherten davon auch nicht profitieren.

Fehr summiert die Wirkung so: „Das oberste Einkommensdrittel bekommt die billigste hochwertige Versorgung Europas. Das unterste Einkommensdrittel bekommt diese Versorgung über die Verbilligung finanziert. Das mittlere Einkommensdrittel stöhnt unter der Last.“ Bei Familien der unteren Mittelschicht sei zu beobachten, dass immer mehr vom Haushaltseinkommen für die Kopfpauschalen – auch für Kinder wird eine, allerdings geringe, Pauschale fällig – und für die Zuzahlungen ausgegeben wird. Dies gehe auf Kosten der „Investitionen in Erziehung und Bildung“, sagt Thomas Zeltner, Chef des Bundesamts für Gesundheit.

Zeltner macht seinen Job seit 14 Jahren. „Es ist komplex“, ist seine erste Antwort auf jede Frage. Er vergleicht das Gesundheitswesen mit einer „Tinguely-Maschine“, einem Kunstwerk des Schweizer Künstlers Jean Tinguely, der große, wirr aussehende Apparate baute, die unvermutet in Bewegung geraten, und wo das Drehen an einem Hebelchen zu ganz unvorhergesehenen Reaktionen am anderen Ende des Gebildes führt. Immerhin aber hat Zeltner die Zahlen im Blick, die dabei herauskommen: Die Gesundheitsausgaben in der Schweiz wachsen überproportional um jährlich 5 Prozent. Mit ihnen steigt die Kopfpauschale – vor wenigen Tagen wurde die Erhöhung fürs kommende Jahr um 5 bis 6 Prozent bekannt gegeben. Die Prämienverbilligung steigt gleichzeitig aber, gesetzlich festgelegt, bloß um 1,5 Prozent. Auch die Anzahl der durch die Verbilligung Begünstigten wächst um bis zu 4 Prozent jährlich. Während also im weltweit zweitteuersten Gesundheitssystem (nur die USA geben mehr aus) die Kosten stark steigen, schrumpft gleichzeitig der Sozialausgleich.

Der Schweizer Gesundheitsökonom und Regierungsberater Willy Oggier resümiert: „Der Mittelstand ist geprügelt, die Binnennachfrage ist durch die steigenden Prämien stark geschwächt.“ Und was den An- oder Aufschwung der Gesamtwirtschaft angeht, den in Deutschland viele der Kopfpauschale zuschreiben, so weist Oggier darauf hin: „Wir hatten in der Schweiz seit 1996 jedes Jahr ein schlechteres Wirtschaftswachstum als die EU-Länder. In zwei Jahren davon haben wir es sogar geschafft, unter Deutschland zu liegen.“

ULRIKE WINKELMANN