„Ich bin doch nicht verrückt“

Depressionen als Folge von Herzinfarkten verkürzen die Lebenserwartung der Hälfte der Infarktpatienten. Betroffene kennen dieses Risiko oft nicht – und auch Ärzte unterschätzen die Bedeutung von psychologischer Hilfe nach Infarkt

von Diana Böger

„Nachts, wenn alle schlafen, liegst du wach und fragst dich, warum gerade dir das passiert ist: von jetzt auf gleich ein Krüppel geworden, nicht mehr vollwertig, behindert, auf ewig tablettenabhängig.“ Er findet keine Antwort. Jürgen Berger* hatte vor fünf Monaten einen schweren Herzinfarkt. Aus heiterem Himmel. Trotz gesunder Ernährung und solidem Lebenswandel. Ohne erkennbaren Grund.

Nach drei Tagen Intensiv- und einer Woche Normalstation in einem hannoverschen Krankenhaus ging der 48-Jährige mit einem Schwung Pillen nach Hause und eine Woche später in die dreiwöchige Rehabilitation.

Das Konzept jeder Reha-Klinik ist Sport, Blutdruck- und Pulsüberwachung, Ernährungstipps. In einigen Kliniken bieten Psychotherapeuten den Patienten und Angehörigen Gespräche an. „Den Bedarf bestimmt der Patient aber weitestgehend selbst“, so Professor Dr. Christoph Herrmann-Lingen, Leiter der Abteilung für Innere und Psychosomatische Medizin der Uni-Klinik Göttingen. Jürgen Berger hat dieses Angebot vor fünf Monaten nicht genutzt.

„Ich konnte das noch gar nicht alles überblicken“, sagt er heute. Damals waren seine größten Probleme die Nebenwirkungen der Medikamente. Haarausfall, Druck in der Brust, Gelenkschmerzen. Das tiefe Loch kam erst später, als er zu Hause wieder am täglichen Leben teilnahm. Er fühlte sich dem Alltag nicht gewachsen, war plötzlich mit seinen Ängsten allein. „Anfangs kriegst du ganz viel Aufmerksamkeit von deiner Umwelt. Aber ein Herzinfarkt hinterlässt ja keine sichtbaren Spuren. Dann behandeln dich schnell alle wieder, als wärst du gesund.“ Nach drei Wochen seien die Anderen wieder zur Tagesordnung übergegangen. Er hat versucht, sich neu zu motivieren, achtet auf gesunde und cholesterinfreie Ernährung und treibt viel Sport, um wegen der immer noch anhaltenden Nebenwirkungen wenigstens die Tablettendosis niedrig zu halten.

Auch Katarina Wuttke*, 49, hat seit ihrem Infarkt vor vier Jahren mehr Tiefen als Höhen erlebt. Seit einem halben Jahr ist sie wenigstens ihre körperlichen Beschwerden los. „Meine Medikamente sind inzwischen gut aufeinander abgestimmt.“ In schwachen Momenten gibt sie zu, wie schlecht sie sich wirklich fühlt. Tief in ihr sitzt der Frust über die Gleichgültigkeit, mit der die Menschen ihrer Krankheit zu begegnen scheinen. Ihr Mann leidet unter ihrer Unlust im Bett. Katarina frisst den Kummer in Form von fettem Essen in sich hinein – und nimmt „eben einfach eine Tablette mehr“. Psychotherapie lehnt sie ab. „Ich bin doch nicht verrückt!“

Die Krankheit Depression nach Herzinfarkt ist inzwischen ein anerkannter Risikofaktor für einen Neu-Infarkt. „Rund die Hälfte aller Infarktpatienten leiden unter leichten Depressionen. Oft hilft hier schon ein einziges Gespräch mit einem Therapeuten und die Hilfe der Familie“, so Prof. Herrmann-Lingen. Wenn aber Symptome wie Antriebslosigkeit, Schmerzen, Stimmungsschwankungen und die Lustlosigkeit am Sex zunähmen, sei höchste Alarmbereitschaft geboten. „Das sind eindeutige Warnhinweise für eine schwere Depression. Davon sind gut ein Viertel der Patienten betroffen.“ Sie haben laut Herrmann-Lingen ein um das Dreifache erhöhtes Sterberisiko durch einen Neu-Infarkt.

Katarina Wuttke und Jürgen Berger sind zwei Patienten, die in der Rehabilitation nicht ausreichend über die langfristigen Folgen des Infarkts aufgeklärt wurden. Das psychologische Gespräch und Entspannungsgruppen werden zwar als Teil der Rehabilitation angeboten, aber es ist eben nur ein „Angebot“ und steht nicht auf dem Pflichtstundenplan. Wieviel Patienten sich im Reha-Zentrum Bremen wirklich daran beteiligen, kann Therapieleiterin Gunda Krochmann nicht sagen. Das Reha-Zentrum Bremen versorgt die Patienten bei der Entlassung noch mit Empfehlungen und nennt Kontakte zu Selbsthilfegruppen. Das allerdings hauptsächlich bei auffälligen Patienten, „wo im Vorfeld schon was gelaufen ist“, so die Therapieleiterin.

Jürgen Berger hat sich inzwischen mit Fachliteratur versorgt und sammelt auf eigene Faust Erkenntnisse, denn sein Kardiologe konnte ihm nichts anbieten. Professor Herrmann-Lingen wundert das nicht. Das Krankheitsbild würde von vielen Kollegen gar nicht wahrgenommen oder als eigenständige Krankheit gesehen. „Die Ärzte müssen an dieser Stelle unbedingt mehr Hand in Hand arbeiten, sonst kommt die Versorgung in vielen Fällen einfach zu spät.“

*Name geändert