Hierarchiefreie Träume vor Stasi-Beton

taz-Serie „Gelebte Utopien“ (Teil 2): Nach der Wende verwirklichte der Bürgermeister von Neu Zittau auf dem Kesselberg, der ehemaligen Stasi-Funkzentrale, ein ökologisches Modellprojekt. Sein Verein scheiterte, die Idee lebt weiter. Heute versuchen dort 58 Ökoaktivisten ihr Glück

VON ALENA SCHRÖDER

Die Natur ist stärker als jedes Stasi-Bauwerk: Am früher stromgeladenen Grenzzaun der ehemalige Funkzentrale der DDR-Staatssicherheit wachsen Kletterpflanzen empor, in den Sendemasten nisten Vögel, Moos bedeckt die betonierten Kabelkanäle im Wald. Ruhe ist auf dem 50 Hektar großen Gelände – dem Kesselberg bei Neu Zittau, 25 Kilometer südöstlich von Berlin – jedoch keineswegs eingekehrt. Wo die Stasi bis zur Wende den geheimen Funkkontakt zu ihren Agenten in aller Welt hielt, betreiben heute 58 Aktivisten das Ökologische Kulturzentrum Kesselberg.

„Das Projekt ist offen für jeden. Unter uns gibt es Ökos, Esos, Politniks, Künstler, Computerfreaks, Hausbesetzer, Traveller und hängen Gebliebene aus ganz Europa“, sagt der 24-jährige Ben, der seit einem Jahr in einem Wohnwagen auf dem Kesselberg lebt und sich selbst eher zu den „Politniks“ zählt. Was alle eint, sind der Wunsch nach einer alternativen, autarken und ökologischen Lebensweise sowie ein entspanntes Verhältnis zu Geld und Besitz. „Wir haben keine Lust, uns ständig um Geld zu streiten. Jeder bringt sich eben ein, so gut er kann – finanziell oder eben durch seine Fähigkeiten“, sagt Ben. Holz-, Metall- und Fahrradwerkstätten, zwei Tonstudios, diverse Gemüsebeete und der Ausbau der ehemaligen Stasigebäude bieten dazu jede Menge Möglichkeiten. Ihren Lebensunterhalt bestreiten die Kesselberg-Bewohner mit Gelegenheitsjobs, etwa als Messebauer oder Tellerwäscher. Auf Profit ist das Projekt jedenfalls ausdrücklich nicht aus: Andere alternative Initiativen können das Gelände kostenlos für Seminare und Treffen nutzen, vermietet wird grundsätzlich nichts. Die Erzeugnisse der verschiedenen Werkstätten werden nicht verkauft, sondern ausschließlich auf dem Kesselberg verwendet. „Wer mit dem Projekt Geld verdienen will oder hier nur rumhängt und sich nicht einbringt, hat hier auch nichts verloren“, sagt Andreas, einer von den Travellern. „Wir sind hier schließlich kein soziales Wohnprojekt.“

Seitdem die Stasi das Gelände verlassen hat, haben verschiedene Initiativen versucht, den Traum vom autarken, ökologischen Leben auf dem Kesselberg zu verwirklichen. Als die taz vor elf Jahren zum ersten Mal über den Kesselberg berichtete, hatte Hartmut Wolter, damals frisch gewählter Bürgermeister von Neu Zittau, gerade das „Ökologische Zentrum Kesselberg“ gegründet. Besetzt mit ABM-Stellen, finanziert durch Fördergelder und mit dem technischen Know-how der auf Umwelttechnik spezialisierten Kreuzberger Firma „Atlantis“, entstand auf dem Areal ein Modellprojekt für einen dezentralen Wirtschaftskreislauf. Windräder und Solaranlagen versorgten die Anlage mit Strom und Wärme, ein Blockheizkraftwerk, eine Pflanzenkläranlage und Komposttoiletten wurden angelegt, die alten Gebäude mit Ökobaustoffen renoviert. „Wir waren unserer Zeit richtig voraus“, sagt Hartmut Wolter, dessen Verein sich heute hauptsächlich um Jugendbildung in der Region kümmert. Schon damals wurden 35 Jugendliche auf dem Kesselberg in Hauswirtschaft und als Gas-Wasser-InstallateurIn ausgebildet.

1996 scheiterte das Projekt am Streit zwischen Atlantis und Wolters Verein. „Atlantis hat uns nur missbraucht, um Fördergelder abzuzocken“, sagt Hartmut Wolter heute. Nach langen Auseinandersetzungen musste Wolter mit seinen ABM-Kräften das Gelände verlassen, die Berliner Firma wurde alleinige Eigentümerin und ging kurz darauf in Konkurs – beinahe zwei Jahre lang standen auf dem Kesselberg alle Räder still.

Die Ruhe sollte nicht ewig dauern: Tommy („mein Nachname tut nichts zur Sache“), aktiv in Berlins linker Szene und gerade zurückgekehrt von einem Treffen der Zapatisten im mexikanischen Chiapas, entdeckte das Gelände 1998 als idealen Ort für eine „indigene Botschaft“. „Wir wollten einen autonomen Lebensraum schaffen, in dem Indigene frei leben und ihre Interessen vertreten können, quasi eine Botschaft von unten“, sagt er. Also gründete der Neuzapatist mit ein paar Freunden verschiedene AGs, diskutierte viel und konnte schließlich auch ein Treffen mit Abgesandten der kolumbianischen Kofanis und ein großes Lateinamerika-Fest auf dem Kesselberg auf die Beine stellen. Richtig etabliert hat sich das Projekt nicht: Der Kontakt zu den indigenen Gruppen war mühselig, für weitere Treffen fehlte das Geld. Zusätzlich hätten die Konflikte mit Grundstücksspekulanten die Gruppe aufgerieben, erzählt Tommy: „Da war handfeste Hausbesetzererfahrung nötig –die hatte nun mal nicht jeder.“

Eigentümerin des Geländes war zu diesem Zeitpunkt die Bank für Gemeinwirtschaft (jetzt SEB), und die wollte das Areal eigentlich loswerden. Also sammelte Tommy eine neue Gruppe von Aktivisten um sich, um den Kesselberg zu kaufen. Bei der Zwangsversteigerung im Sommer 2003 konnte sein neu gegründeter Verein Ökologisches Kulturzentrum Kesselberg das Gelände für 103.000 Euro erwerben. „Und das ganz ohne Bankkredit“, erzählt Ben. Ein Drittel der Summe kam durch Spenden zusammen, den Rest brachten die Vereinsmitglieder ein. Einige liehen sich das Geld von Freunden.

Nach der turbulenten Zeit ist es wieder etwas ruhiger geworden, die Gruppe hat sich auf dem Kesselberg eingerichtet: In den ehemaligen Hütten der Stasi-Wachhunde leben heute Hühner, zwischen den alten Baracken wurden Gemüsebeete angelegt. Alle anderen Lebensmittel werden „containert“, also aus den Müllbehältern des nahen Supermarkts gefischt. „Richtig kaufen müssen wir eigentlich nur Tabak“, sagt Ben.

Dass die Gruppe ihre ökologischen Konzepte auch wirklich umsetzen kann, ist vor allem den Überresten von Hartmut Wolters’ Verein zu danken: Durch die beiden Windräder und die Solaranlagen ist die Anlage fast energieautark, Trinkwasser kommt aus den alten Brunnen der Stasi, und dank der Pflanzenkläranlage können Abwässer umweltfreundlich entsorgt werden. „Leute aus der Stadt müssen sich erst mal daran gewöhnen, dass sie hier nur noch Kernseife benutzen können und über offenem Feuer kochen müssen“, sagt Ben. „Wenn man die Stadt nicht hinter sich lassen kann, hält man es hier auf die Dauer nicht aus.“ Dass das nicht ganz stimmen kann, zeigt die stattliche Satellitenschüssel auf dem Dach des Haupthauses. Auf die Annehmlichkeit eines eigenen Fernsehers will offenbar doch nicht jeder verzichten.

Tommy lebt inzwischen nicht mehr auf dem Kesselberg: „Ich stecke gerade in einer Abnabelungsphase, meine Vorstellungen haben sich einfach geändert“, sagt er. Letztlich sei ihm das Projekt zu offen gewesen: „Ein paar Regeln und Verbindlichkeiten muss es einfach geben, wenn man mit so einem Projekt etwas erreichen will“, sagt er. Die Stapel dreckigen Geschirrs in der Gemeinschaftsküche, rostende Autowracks und jede Menge herumliegender Bauschutt zeigen eindrucksvoll, wie viel Chaos entstehen kann, wenn sich niemand wirklich verantwortlich fühlt. Ganz trennen kann sich Tommy dann aber doch nicht: Ein Zimmer auf dem Kesselberg will er auf jeden Fall behalten.

Auch Hartmut Wolter kommt ab und zu noch auf den Kesselberg: „Inzwischen tut es nicht mehr weh“, sagt er. „Respekt vor der guten Arbeit der jungen Leute“ habe er und er sei froh, dass die ursprüngliche Idee eines ökologischen Zentrums weitergeführt werde. „Nur wenn manchmal da oben Techno-Partys stattfinden und die Bässe durch den Wald bis ins Dorf zu hören sind, muss ich die Jungs manchmal an ihre eigene Umweltschutzdoktrin erinnern“, sagt er und lacht.

Klar, perfekt sei der Kesselberg noch lange nicht, gibt auch Ben zu. Immerhin versuchten hier Menschen mit unterschiedlichstem sozialem Hintergrund, mit einer Altersspanne von 0 bis 64, ohne feste Regeln und Hierarchien gemeinsam etwas aufzubauen, da gehe es nun mal nicht ganz ohne Konflikte und Kompromisse. Trotzdem: „Eine ökologische Alternative ist lebbar. Wenn wirklich alle mitmachen, ist sie hier irgendwann Realität.“ Sagt Ben.