Crazykid mit sanfter Seele

Tyler Hamilton war einst treuer Helfer von Lance Armstrong, jetzt ist er einer seiner härtesten Konkurrenten, auch wenn er sich gestern vom Gedanken an den Toursieg wohl verabschieden musste

AUS LA MONGIE SEBASTIAN MOLL

Tyler Hamilton ist ein wandelnder Widerspruch. Seit er im Jahr 2003 die Tour de France mit einem gebrochenen Schlüsselbein fuhr und Vierter wurde, wird er unangefochten als der härteste Mann in einer der härtesten Sportarten betrachtet. Doch gleichzeitig ist Hamilton, der 32- Jahre alte Neu-Engländer mit der knabenhaften Statur, einer der nettesten und sanftmütigsten Rennfahrer. Wenn man mit ihm spricht, sucht er Augenkontakt und hört sich bedächtig an, was man zu sagen hat; seine grünen Augen öffnen sich ein Stück, er neigt den Kopf ein wenig zur Seite und überlegt sich genau seine Antwort. Und tut dann sein Bestes, mit seiner sanften Stimme so ehrlich und so präzise zu antworten, wie er nur irgend kann.

Doch die Widersprüche des Mannes, der nach dem Sturzpech von Iban Mayo als einer der gefährlichsten Herausforderer von Lance Armstrong galt, bis er gestern fast dreieinhalb Minuten verlor, lösen sich auf, wenn man ein paar Details seiner Biografie kennt. Als Hamilton 13 Jahre alt war, verbrachte er mit seiner Familie die Winterwochenenden in den White Mountains von New Hampshire. Dort traf er seine Kumpels – sechs oder acht Jungs in seinem Alter –, darunter Mark Synnott, jetzt ein berühmter Steilwandkletterer und Rob Frost, der preisgekrönte Abenteuer-Dokumentationen dreht.

Die Gang spielte das, was sie Crazykids nannten. Crazykids, das war jeden Tag ein verrücktes Abenteuer. Einen Berg besteigen, etwa oder einen halb gefrorenen Fluss überqueren. Hamiltons Eltern Bill und Lorna ließen die Jungs machen – schließlich waren sie selbst begeisterte Natursportler. Sie hatten sich beim Skifahren kennen gelernt, und die Familienurlaube bestanden aus Dingen wie Kanufahren in Alaska und Bergsteigen am höchsten Berg östlich des Mississippi, dem sturmumtosten Mount Washington in New Hampshire.

Sobald die Tür des Hauses Hamilton geschlossen war, galten jedoch andere Regeln. Das Telefon wurde höflich beantwortet, man setzte sich pünktlich zum Essen an den Tisch. Und vor allem: Es gab keine Prahlerei. Nicht, dass es nichts zum angeben gegeben hätte – Hamilton war einer der besten jungen Skirennfahrer an der Ostküste. Doch wenn Hamilton gewann, hielt ihn sein Vater immer an, den Verlierern zu gratulieren: „Ich habe heute nur ein wenig mehr Glück gehabt“, sagte Hamilton dann.

So bezeichnet sich Hamilton heute mit einiger Glaubwürdigkeit als einen sanften, ruhigen Mannschaftskapitän. Als er in diesem Frühjahr die Tour de Romandie gewann, schenkte er jedem seiner Mannschaftskameraden eine Uhr, auf deren Rückseite er eine persönliche Widmung gravieren ließ. Hamilton ist ein unnachgiebiger, harter Wettkämpfer. Aber er ist kein Despot: „Es geht sehr menschlich bei uns zu“, sagt Urs Freuler, der Manager seines Schweizer Teams Phonak.

Vor drei Jahren verließ Hamilton das US-Postal-Team, wo er als wichtigster Helfer von Lance Armstrong an drei Tour-Siegen seines Chefs beteiligt war. Aber Hamilton wollte nicht den Rest seiner Karriere als Zuarbeiter verbringen, und so trennte er sich von seinem Boss. Das Besondere an dieser Kündigung war, dass Hamilton es als erster Postal-Fahrer schaffte, sich im Guten von Armstrong zu trennen. Als etwa Kevin Livingston kündigte, betrachtete der herrschsüchtige Texaner dies als Hochverrat. Und auch, dass in diesem Jahr der Spanier Roberto Heras US Postal verließ, erfreute Armstrong nicht gerade. Er konnte es sich nicht verkneifen, Heras im Nachhinein nachzusagen, er habe sich nie richtig in die Mannschaft integriert und es versäumt, aus der Zusammenarbeit mit dem besten Radfahrer der Welt seine Lehren zu ziehen.

Anders bei Hamilton. Der bezog seinen Freund und Boss so sehr in seine Entscheidung ein, dass Armstrong es sogar als irgendwie für seine eigene Idee hielt. Hamilton ist zwar jetzt ein Konkurrent Armstrongs, aber Armstrong kann sich damit brüsten, Hamilton ausgebildet zu haben. Und in gewisser Weise arbeiten sie noch immer zusammen. Die Manager der beiden, Bill Stapleton und Mark Higgins, haben ihre Agenturen zusammengelegt und vermarkten Armstrong und Hamilton in den USA gemeinsam.

Doch damit nicht genug, Armstrong und Hamilton wohnen während der europäischen Rennsaison zusammen in einem Haus im spanischen Girona. Wenn beide zur selben Zeit dort sind – was nicht häufig vorkommt –, gibt es auch mal gemeinsame Abendessen bei Armstrongs oder Hamiltons. Als Freundschaft würde Tyler Hamilton die Beziehung trotzdem nicht bezeichnen. Eher als respektvolles Verhältnis unter Kollegen. Der Texaner, so Hamilton, rede sehr viel. Er, der reserviertere Ostküstler, bevorzuge hingegen eine ruhigere Tonlage. Nur auf dem Rad sind sich die beiden ähnlich – da sind sie beide Crazykids.