Britische Männer, ganz privat

Deutschland-Premiere: Auf Schloss Gottorf in Schleswig ist derzeit eine Retrospektive des 39-jährigen, international umjubelten britischen Künstler Steven Conroy zu sehen

Steven Conroys Bilder sind Momentaufnahmen, die Fragen aufwerfen: Darf ich das überhaupt sehen? Geht es mich wirklich etwas an?

Mächtig stolz steht das Schloss Gottorf auf einer idyllischen Schlei-Insel, die sich auf ihrem 40 Kilometer langen Weg von der Ostsee ins Binnenland bei Schleswig wie ein See ausbreitet. In den prächtigen Renaissance- und Barock-Bauwerken wandelten einst fürstliche und königliche Herrschaften. Inzwischen sind hier seit Jahrzehnten Kunst und Kultur zu Hause. Gotische und moderne Skulpturen zieren Fürstengarten, Kastanien-Kaskaden und Herkules-Teich. Schloss Gottorf genießt mit seinen Gemälden aus Barock-, Biedermeier- und Jugendstilzeiten den internationalen Rang eines Zentrums moderner und zeitgenössischer Kunst.

Passend zum diesjährigen Länderschwerpunkt des Schleswig-Holstein Musikfestivals „Great Britain lässt bitten“ präsentiert die Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen in der umgebauten Reithalle des Schlosses derzeit den britischen Maler Stephen Conroy. Die Retrospektive mit 40 großformatigen Ölgemälden, 30 Zeichnungen und zahlreichen Grafiken bietet erstmals in Deutschland Einblick in die Darstellungskraft des weltweit umjubelten Newcomers Conroy.

In der internationalen Kunstszene wird der 39-Jährige bereits als neuer Superstar gehandelt. Und tatsächlich: Kaum jemand scheint sich beim Betrachten der Arbeiten Conroys einer Faszination entziehen zu können. Vielleicht, weil Stephen Conroy indiskret ist? Der Sohn eines Glasgower Werftarbeiters schaut nämlich ganz genau auf die britische Männerwelt und stellt voller Respekt und Ironie Situationen, deren Protagonisten sich unbeobachtet wähnen, in den Mittelpunkt seiner figürlichen Malerei.

Seine Porträts, Einzel- und Gruppenbilder zeugen von tiefer Emotionalität und Offenheit zugleich. Denn Conroy spielt mit Perspektiven und Formaten, hebt Konturen stark hervor, überdimensioniert fast unmerklich Details wie Hände und Füße und setzt menschliche Körper aus abstrakten Formen zusammen.

Designer-Anzüge werden ganzflächig schwarz gemalt. Einzelne Figuren und Bild-Elemente könnten auch etwas völlig Anderes sein. Und fast immer sind sie umrahmt durch intelligent versteckte Symbolik: Das Zeichnen von Quadraten an den Eckpunkten eines Bildes lässt Raum für das nicht gezeichnete und dennoch vorhandene Kreuz. So sorgsam verdeckt und dennoch verblüffend offen gibt Stephen Conroy seine Ansichten preis.

An anderer Stelle zeigt er einen Mann im modischen Anzug, der scheinbar unbeobachtet an einem Brunnen aus einem Wasserrohr trinkt, ebenso wie einen anderen beim hilflosen Sturz vor ein Auto. Diese Bilder sind Momentaufnahmen. Sie wirken wie fotografische Schnappschüsse und machen neugierig. Vor allem werfen sie Fragen auf: Darf ich das überhaupt sehen? Geht es mich wirklich etwas an?

Conroy lässt zwar den Blick in die Privatsphäre der Männer zu, bewahrt aber zugleich respektvoll Distanz. Also darf man hinschauen. Muss man sogar. Denn: Man ist betroffen, während weltweit die Kunstexperten über Stephen Conroy jubeln: Soviel Kraft im künstlerischen Ausdruck, soviel handwerkliches Können, soviel zeichnerisches Talent. In seiner Heimat wurde er bereits in jungen Jahren prominent gefördert, heimste renommierte Preise ein, fand internationale Beachtung. Und obwohl sich seine Arbeiten eindeutig an frühen Meistern der traditionellen Malerei orientieren, zeigen Conroys Bilder keine historischen Ansichten. Im Gegenteil, sie sind höchst aktuell: Das britische Männerbild wird um die Varianten Hilflosigkeit, Verunsicherung, Einsamkeit und Verletzlichkeit erweitert. Conroy stellt in und mit seinen Bildern eine neue Nähe her, ohne die Würde des Einzelnen zu verletzen. Olaf Schechten

Die „Stephen Conroy Retrospektive“ ist noch bis zum 12. Oktober auf Schloss Gottorf zu sehen. Öffnungszeiten: täglich von 10 bis 18 Uhr. Infos unter www.schloss-gottorf.de