Verästelt im alltäglichen Grübeln

Dekonstruktion und Milieustudie, autonome Kunst und künstlerische Selbstzweifel und auch der Sieg der Arbeiterklasse über die Boheme: Das fsk zeigt Hal Hartleys intellektuell-verstiegene Kleinstadtburleske „Henry Fool“, die 1998 in Cannes mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet wurde

Simon ist still. Simon schaut zu, wie Leute Crack rauchen und Sex auf der Kellertreppe hinter der Müllverbrennungsanlage haben, in der er arbeitet. Simon fällt vor lauter Erregung beim Glotzen der Pausendrink aus der Hand, das schreckt das Paar auf, das nun wütend hinter Simon herschießt, um ihn zu verprügeln. Dann liegt Simon auf der Straße, die Stirn blutet, die Brille ist zerbeult, die Augen starren reglos auf Asphalt.

Simon (James Urbaniak) gilt als verschlossener Typ. Er hat eine psychotische Mutter, die unter einer Glocke aus Beruhigungstabletten lebt; seine stets lüsterne Schwester Fay (Parker Posey) hält ihn für einen zurückgebliebenen Loser, der es nie schaffen wird, den miesen Suburb im Hinterland von New Jersey zu verlassen. Was sie nicht weiß: In Simons Kopf spukt eine fremde und seltsame, brutale und sexbessesene Welt, die nur darauf wartet, aus ihm herauszubrechen. Das könnte der Beginn einer reizvollen Splatter-Konstellation sein, ein Rendevous mit Psychos und White Trash. Doch Hal Hartley biegt schon nach wenigen Minuten von diesem Kurs ab und macht seinen Film „Henry Fool“ zur Kleinstadtburleske: Simon, das ist der tragische Held, der durch seine Begegnung mit dem eben erst aus dem Knast entlassenen Henry (Thomas Jay Ryan) seine Befähigung zum Schriftsteller entdeckt.

Offenbar hat sich der New Yorker Autorenfilmer ziemlich viel Stoff vorgenommen. Dekonstruktion und Milieustudie, autonome Kunst und künstlerische Selbstzweifel, all that jazz. Immerhin wurde Hartley für den bereits vor sechs Jahren gedrehten Film 1998 in Cannes mit der Goldenen Palme für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Es geht um die ganz großen Themen der Kulturproduktion, darum, dass wirkliche Literatur nur aus echter Verzweiflung und echten Erfahrungen entstehen kann. Sind die beiden Männer in ihrer Schreibwut gar Spiegelbilder von Joyce und Beckett, wie der Regisseur in Interviews angedeutet hat?

Der 1959 geborene Hartley mag das intellektuelle Spiel mit Beziehungen, die in die Irre laufen: Während Henry seit Jahren an seinen „Confessions“ als Outlaw, Dandy und Teenagerverführer feilt, braucht Simon bloß dessen vage Ratschläge, um als Undergroundstar in die Bestsellerlisten aufzusteigen, bis er für seine Gedichte zuletzt den Nobelpreis erhält. Henrys Texte dagegen werden vom Verleger abgelehnt, deshalb übernimmt er in der Not Simons Job bei der Müllabfuhr, heiratet auch dessen Schwester und bleibt als schwermütiger Trinker in der Provinz zurück. Das ist ohne Zweifel ein starkes Bild für den Triumph der working class über die Boheme.

Doch Hartley genügt eine solche, ebenso intuitive wie amüsierte Revolution der Verhältnisse nicht. Der Film verästelt sich im alltäglichen Grübeln, spießt nebenher noch ein wenig US-typische Law-and-Order-Gläubigkeit auf und findet das Gegenmodell in asiatischen Büdchenbesitzern, die plötzlich ein Striplokal betreiben, weil auch die Migranten mit den ständig im Wandel begriffenen Märkten leben müssen. Das ist zwar gut an der Wirklichkeit beobachtet, wird im Film aber nur als etwas hölzerne These in Szene gesetzt.

Nach einer Weile scheint sich „Henry Fool“ in lauter Beiläufigkeiten zu versteigen, die stets schwer symbolisch als Miniaturen einer tief bedrückten Gesellschaft dienen. Die Mutter bringt sich um, als Henry mit Fay schläft, zur Sühne dieser Schuld wird aus der nymphomanen Tochter nun selbst eine sorgenvolle Mutter, ihre Freude am Ficken verwandelt sich in family values.

Offenbar hat sich aber auch Henry seine ausschweifende Biografie nur geborgt, in seinem früheren Leben war er kein künstlerisches Genie, sondern bloß Hausmeister; und im Gefängnis saß er wegen Verführung von minderjährigen Mädchen. Das sind irritierende Momente, in denen man gern mehr über die Grenzen der Freundschaft zwischen Simon und seinem Lehrmeister wissen würde, die doch sehr dem Pakt zwischen Faust und Mephisto ähnelt.

Stattdessen schickt Hartley seine Helden mehr und mehr auf Distanz. Je größer die Kluft des Künstlers zur Umgebung, desto rollenhafter sein Verhalten. Irgendwann tritt jede Empfindung auf der Stelle, und man fragt sich überhaupt, was wohl in Simons weltbewegendem Gedicht steht. Bis zum Schluss des Films hört man keine Zeile: Das Meisterwerk bleibt Hartleys wohlgehütetes Geheimnis. Auch darin ist er ganz auteur.

HARALD FRICKE

„Henry Fool“. Regie: Hal Hartley; mit James Urbaniak, Thomas Jay Ryan u. a., USA 1997, 137 Min., im fsk, Segitzdamm 2