Glücksspiel Forschung

Die Polarstern holt vor Spitzbergen Proben von der Fauna auf dem Meeresgrund, einem Lebensraum, der weniger erforscht ist als die Rückseite des Mondes, wie die Wissenschaftler meinen. Was dabei herausgefischt wird, ist jedes Mal eine Überraschung

von 79° Nord 9° OstHelmke Kaufner

Tiefseeforschung ist bisweilen ein Glücksspiel. Damit die Biologin Melanie Bergmann zum Beispiel an Proben kommt, zieht die „Polarstern“, der Eisbrecher des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (AWI), westlich von Spitzbergen ein Schleppnetz über den 5.500 Meter tiefen Meeresgrund. Vier Chancen auf einen guten Fang hat Bergmann auf der diesjährigen Forschungsfahrt. Der erste „Hol“, am Haakon-Mosby-Schlammvulkan viele Hundert Seemeilen weiter südlich, brachte nur zwei große Felsbrocken und kaum Fische – wenig Material für ihre Untersuchungen. Jetzt strömen Forscher und Besatzungsmitglieder auf das Arbeitsdeck. Sie wollen wissen, wie es diesmal aussieht.

Riesige Winschen ziehen das Netz aus dem Wasser, einen Meter pro Sekunde. Mit seinem stoppeligen Schleppschutz aus gespleißtem Tauwerk sieht es aus wie ein abgemähtes Maisfeld, das an Deck gehievt wird. Ein großer Klumpen Schlamm fällt heraus. Mit geübtem Blick erkennen die Fachleute einen Fisch im Schlammhaufen und ziehen einen kleinen Rochen raus. Ein viel versprechender Anfang.

Für die Biologin beginnt jetzt eine mühsame und schmutzige Arbeit. Sie durchspült und siebt den ganzen Haufen. Jeder Fisch, jeder Schlangenstern und jeder Schwamm wird aussortiert und dann gekühlt. Am Ende sieht sie aus, als habe sie sich im Schlamm gesuhlt. „Das gehört dazu“, sagt Bergmann gelassen.

Sie ist erleichtert, dass der Fang diesmal ergiebig war. In Bremerhaven wird sie den Mageninhalt der gefangenen Tiere analysieren, ihre Geschlechtsorgane untersuchen und ihr Alter bestimmen. „Wir wissen viel zu wenig über die Tiefseefische hier in der Arktis und ihre Funktion im Ökosystem“, sagt die Biologin.

Tiefseetiere sind darauf angewiesen, dass Nahrung, besonders Algen, von der Meeresoberfläche zu Boden sinkt. Das geschieht in der Arktis hauptsächlich im Sommer. „Im Winter ist es hier extrem dunkel und kalt,“ sagt Biologe Ingo Schewe, „da fehlt Sonne für das Algenwachstum.“

Der Organismus der Tiefseetiere hat sich darauf eingestellt. Sie sind richtige Hungerkünstler. Schewe untersucht mit Experimenten, wie diese Organismen auf ein plötzliches Nahrungsangebot reagieren, ob und wie sie es zur Reproduktion nutzen. „Die Tiefsee ist weit weniger erforscht als die Rückseite des Mondes, dabei ist das der größte Lebensraum auf unserer Erde“, wundert sich Schewe.

Bei der anstrengenden Arbeit im Schichtbetrieb rund um die Uhr stehen den Forschern studentische Hilfskräfte zur Verfügung. Ulrike Poppe aus Jena hat sich vor einem Jahr beim AWI dafür beworben. Es gibt lange Wartelisten. Die Geographie-Studentin steht kurz vor der Diplomarbeit und ist froh, dass es jetzt mit der Fahrt geklappt hat.

Ihre Schicht beginnt um vier Uhr morgens und sie hat viel zu tun. Mal sitzt sie im Winschenleitstand und sagt an, wann die Winde stoppen soll, damit in einer vorher festgelegten Tiefe Proben entnommen werden können. Dann wieder hilft sie beim Ausspülen der Fische aus dem Schlamm.

Dank des anhaltend ruhigen Wetters gehen die Arbeiten zügig voran. Eine Sediment- und Wasserprobe nach der anderen kommt an Bord und mit ihr so manche Enttäuschung. Einer der „Bottom-Lander“, den die Polarstern vor einem Jahr in ihrem Hausgarten ausgesetzt hat, erweist sich zum Beispiel als taube Nuss. Die Forscher nutzen diese Gestelle auf dem Meeresboden für Besiedlungsexperimente, chemische Messungen und für Fänge mit Fallen. Die Bergung ist jedes Mal ein Abenteuer, weil die aufschwimmenden Sonden oft weit abgetrieben werden. Per Wurfanker werden sie schließlich herangeholt und an Bord gehievt.

Diesmal finden sich Proben nur in einem von zwölf aus dem Meer gehievten Behältern. Enttäuschung macht sich breit. Dann beginnt die Fehlersuche. Es muss an der elektronischen Steuerung gelegen haben. Da das Versenken anderer Sinkstoff-Fallen geplant ist, wird alles noch mal gründlich getestet. Es funktioniert an Bord – ob es sich allerdings auch auf dem Meeresboden bewährt, das erfahren die Wissenschaftler erst in einem Jahr!

Das Schiff steuert inzwischen die nördlichsten Positionen auf diesem Fahrtabschnitt an, kurz vor dem 80. Breitengrad Nord. Seenebel kommt auf. Es bildet sich ein Nebelbogen. Wie ein Regenbogen steht er am Himmel, nur strahlend weiß. Dann treibt eine kleine Eisscholle durchs Bild. So beginnt die letzte arbeitsreiche Woche auf dem ersten Fahrtabschnitt der 20. Arktisexpedition der Polarstern.

Fortsetzung nächsten Montag