Die Stadt von einem anderen Stern

Sindelfingen galt als das Symbol deutscher Wirtschaftskraft. Dank DaimlerChrysler. Jetzt stellt der Weltkonzern den Standort infrage. Und damit die Identität der Stadt

VON SUSANNE LANG

Angenommen, es gäbe noch ein Paradies in Deutschland – voilà: Der blaue Mercedes-Stadtbus schaukelt sanft um die Linkskurve, der Motor summt, der Fahrer brummt: „Ah noi, echt! Ja, ne, is ne Katastrophe!“ Der Fahrgast am Logenplatz ganz vorn nickt, so heftig, dass der Hals dicke Falten wirft. „Ja ja, im Fernsehen haben sie’s zeigt, alle Busfahrer haben gestreikt in Italien, 1.300 Euro netto, das muss man sich vorstellen, netto, ne! Für das Geld würd hier ja keiner mehr arbeiten.“ Der Fahrer bremst. „Ah noi, echt!“ Der Bus steht. Haltestelle Zentraler Omnibusbahnhof Sindelfingen. Links leuchtet der Schriftzug des neuen Einkaufszentrums „Stern-Center“, rechts schlängeln sich die kleinen Häuschen hinauf zum historischen Marktplatz.

Sindelfingen, die schwäbische Paradekleinstadt, gut 62.000 Einwohner, bis Mitte der 80er nicht nur die reichste Stadt Deutschlands, sondern auch das Vorzeigebeispiel deutscher Arbeitstugenden, das Erfolgsmodell deutscher Wirtschaftskraft. Die Daimler-City mit den Zebrastreifen aus Carraramarmor am Marktplatz, mit dem pompösen Sportkomplex „Glaspalast“, mit dem größten und produktivsten Werk des DaimlerChrysler-Unternehmens bundesweit, mit 41.000 Beschäftigten, die gern viel und gut „schaffe“, die dem Daimler, ihrem Daimler, von Ausbildung bis Rente so loyal sind wie nur Kinder treu sorgenden Eltern. „Der Lohn muss schon stimme“, sagen sie gern. „Denn hier wird richtig gschafft.“ Geld hat man verdient und spricht selbstverständlich darüber, nicht nur beim Smalltalk im Stadtbus. Wohlstand ist Grundrecht, kein Luxus. Sozialer Turbokapitalismus. S-Klasse Sindelfingen. Das Paradies, das wie ganz Deutschland nun so plötzlich aus seinem süßen Traum aufwachen muss und nicht will. Italien mit seinen Nettolöhnen und radikalen Streiks, es ist gefährlich nahe gerückt.

Graue Wolken an diesem Tag, die Luft drückt, aus der Ferne dröhnt ein Trillerpfeifenkonzert auf den Marktplatz. Helga Bressel zupft verwelkte Blüten von den Balkonpflanzen, die sie an ihrem Gärtnereistand verkaufen will. „Ja, mei, was soll ich dazu sagen“, murmelt sie. Arbeitszeitverlängerung, Drohung von Daimler, die Produktion der C-Klasse nach Bremen und Südafrika zu verlagern, die streikenden Beschäftigten – sie versteht es nicht ganz. Ihr Mann Siegfried auch nicht. „Diese Prämien jahrelang“, sagt er, „so wie der Arbeiter schafft, so gehört ihm das Geld, aber zur Zeit ist das nicht mehr gerecht.“ Die Leute sparen ja auch am Obst und Gemüse, er streikt nicht.

300 Meter weiter wälzt sich die Schlange von wütenden Daimler-Arbeitern durch die Innenstadt. „Uns kürzen sie den Lohn, und die Vorstände kriegen den Hals nicht voll,“ empört sich Eberhard Nagel, der noch seinen Blaumann und die Schutzbrille aus rotem Plexiglas trägt. 300 Euro, hat er ausgerechnet, würden dem Arbeiter, der an der S- Klasse mit baut, fehlen, wenn Gewinnbeteiligung, Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld und sonstige Zuschläge gekürzt würden. „Das ist ein Haufen Geld.“ Schließlich habe er Familie und – er grinst stolz – „eine Eigentumswohnung“. Wie jeder hier. Jetzt geht es also an das Fundament der schwäbischen Existenz. Eine Mutter filmt den Zug von ihrem Balkon aus, die beiden Söhne hängen am Geländer und starren mit großen Augen herunter. So einen Streik hat Sindelfingen bisher noch nicht gesehen. Jetzt geht es um ihr S-Sindelfingen. Der Boden des Erfolgsmodells, regionale Identifikation mit einem Weltkonzern, der im Gegenzug in der Region fest verwurzelt ist und soziale Verantwortung übernimmt, wackelt gehörig.

Plötzlich scheint es, als hätte sich dieses Sindelfinger Modell überholt, das sich jüngst doch noch bewiesen hatte und die schwere Finanzkrise mit ehrenamtlichem Engagement und eisernem Sparwillen überwand, als die Gewerbesteuer durch die Kommunalfinanzreform 2003 auf einen historischen Tiefpunkt sackte. Sindelfingen ist keine Autostadt wie Wolfsburg, die ohne VW gar nicht erst existieren würde, keine wie die internationale Autostadt „Anting New Town“, eine Vision von einer „humanen“ Metropole zum Arbeiten und Wohnen, wie sie der Architekt Albert Speer junior gerade in China bauen lässt, die paradoxerweise sogar die Ästhetik deutscher Kleinstädte in Form von Gaubenfenstern und Satteldächern zitiert. Städte wie eben Sindelfingen, eine Jahrhunderte alte Kreisstadt im schwäbischen Speckgürtel um Stuttgart, deren Struktur immer noch sehr viel mehr an mittelalterliches Lehenswesen erinnert als an eine postindustrielle Hightech-Stätte.

Auf der einen Seite der Hanns-Martin-Schleyer-Straße thront sie, die Daimler-Burg, die Werkshallen mit dem profitabelsten Güterbahnhof Deutschlands. Auf der anderen schlummert die Innenstadt mit ihren kleinen Metzgereien, den Stüble, Hotels und Menschen, die in schlafwandlerischer Ruhe über den Marktplatz bummeln, ab und an für ein Stück Kuchen oder ein Weizenbier beim Bistro mitten am Platz halt machen. In diese Innenstadt fließen die Geldströme „vom Daimler“ – solange er sie lässt. Zu Menschen wie Wolfgang Knote und seiner Frau Ingrid, die seit 25 Jahren die Gäste der Stadt, also die Geschäftskunden von DaimlerChrysler, in ihrem Hotel „nach Hause kommen“ lassen. Wolfgang Knote pafft den Rauch seines Zigarillos in die Luft und nippt an seinem Kaffee. „Wenn Sindelfingen hustet, dann hat Deutschland Lungenentzündung“, sagt er, nicht ohne Lokalpathos, aber: „Das ist so“.

Der 56-jährige Koch spürt jede Konjunkturschwankung in der Region unmittelbar. Die Geschäftstouristen, wie er sie nennt, bleiben nur mehr zwei Tage. Früher waren es vier. Wolfgang Knote weiß nicht so recht, worüber er sich mehr ärgern soll, die Politik, die große, oder die Sindelfinger – Arbeiter wie Einzelhändler – die „auf hohem Niveau jammern“ und sich nicht an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen wollen. „Jede Zeit hat ihre Erfolgschancen“, daran glaubt er fest. Immerhin ist er seit 33 Jahren erfolgreicher selbstständiger Unternehmer. Werden die Zeiten schlechter, müsse man noch mehr Qualität bieten, den Kunden in den Kalkulationen noch weiter entgegenkommen. Und mehr arbeiten. Aber in Sindelfingen scheint die Zeit irgendwo in den erfolgreichen 80ern stehen geblieben, die gefühlte zumindest.

Deshalb stolpern die Menschen über eine plötzlich ausgemachte „Verrohung der Sitten“, den ungewohnt scharfen Ton im Konflikt zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern, über die Diagnose, das Sindelfinger Modell sei die „baden-württembergische Krankheit“. Deshalb sprechen die Menschen von einem „Krieg“ – Menschen, die selbst ihren Marmorzebrastreifen nicht als Luxus empfinden, sondern als ein Musterbeispiel nachhaltigen Wirtschaftens – Marmor ist robuster und kostet daher langfristig gerechnet weniger. Deshalb müssen sie sich ja fühlen, als hätte man ihnen im Schlaf einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet.

Ein Sindelfinger jedoch sieht die Entwicklung erstaunlich nüchtern. Bernd Vöhringer, 34 Jahre alt, Oberbürgermeister, sitzt in seinem Büro im ersten Stock des Rathauses am Marktplatz, einem 70er-Jahre-Bau aus beige-fleckigem Beton, und lächelt sehr freundlich, während die Bohrer der Bauarbeiter unten vor dem Eingang röhren. „Ja, es wird wieder gebaut hier“, kommentiert er den Geräuschpegel, der so viele nerven würde, ihn aber sehr glücklich macht. „Wir können wieder investieren.“ Wieder, seit der Daimler-Konzern am Ende des vergangenen Jahres überraschend doch Gewerbesteuer gezahlt hat. 20 Millionen Euro waren im Haushalt eingeplant, 50 Millionen bekam er. Nichts im Vergleich zu 1986, als Daimler 267 Millionen Mark zahlte. Aber genug, um endlich etwa die marode Tiefgarage unter dem Marktplatz sanieren lassen, deren Statik nicht mehr unbedingt ihren Namen verdient und vielen als Symbol für den Niedergang der Stadt galt: nach außen schmuck, unter der Oberfläche marode. Den aktuellen Konflikt bei Daimler versteht auch Vöhringer, der BWL studiert hat, in seiner Schärfe nicht. „Aber ich bin optimistisch,“ sagt er, „bisher hat immer noch die Vernunft gesiegt.“ Warum Daimler an Sindelfingen festhalten sollte? „Weil die Wurzeln im Ländle liegen.“

Deswegen denkt Vöhringer mehr darüber nach, wie man Sindelfingen für Daimler auch in Zukunft interessant machen kann. „Autostadt Sindelfingen“ heißt seine Vision, mit der er das Unternehmen stärker in die Innenstadt holen möchte, einer „Kombination von Kundencenter und automobilem Erlebnisbereich“. Das Paradies von morgen, mit alten Werten: Daimler. „Es ist ja immer so, dass bei Verhandlungen schnell vergessen wird, dass es uns gut geht.“

Der Zug der protestierenden Arbeiter ist da schon längst wieder am Werk angelangt. Streikschichtende für heute. Der blaue Mercedes-Stadtbus schaukelt weiter seine Runden. „Ja, das is ne Katastrophe, ne,“ stöhnt der Busfahrer. „Man, nur weil der 709er nicht eine Minute warten konnte“, schimpft der Junge am Logenplatz ganz vorn. Schwäbische Pünktlichkeit. Er will die S-Bahn Richtung Böblingen erwischen. Ankunft S- Bahnhof. Der Junge springt aus dem Bus, rennt und läuft und – die Bahn fährt ein. „Ja, noi, ach Junge, siehscht, geht doch“, sagt der Fahrer. Die Türen schließen.