Entsolidarisierte Zeiten

Festhalten an Flächentarifverträgen und der 35-Stunden-Woche, Suche nach neuen Bündnispartnern – wo liegt die gewerkschaftliche Zukunft?

Die Gewerkschaft kann nicht mehr „als großer Tanker auffahren“ und Rechte sichern

von Claudia Hangen

In der Gewerkschaft organisiert zu sein, ist für Arbeitnehmer keine Selbstverständlichkeit mehr. Jürgen Hoffmann, Professor für Politische Soziologie an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), glaubt trotzdem nicht ans Ende der Gewerkschaften. „Solange es Arbeitsmärkte gibt, wird es Formen kollektiver Interessenvertretung geben, die gewerkschaftsähnlich sind.“ Allerdings seien die Gewerkschaften „träge“ geworden, hätten bei der Agenda 2010 nicht früh und deutlich genug „Halt!“ geschrien und befänden sich jetzt in einer Patt-Situation mit der Regierung.

„Träge“ findet er sie auch deshalb, weil sie den Arbeitnehmern ihre Ängste nicht nehmen könnten. Hoffmann bescheinigt den Gewerkschaften „Dialogunfähigkeit“, und deren Folge sei der kontinuierliche Mitgliederrückgang. Die Gewerkschaften hätten es verpasst, neue Mitglieder anzuwerben. Stattdessen konzentrierten sie sich auf ihre alte Klientel und vergäßen, dazuzulernen.

Dass die Gewerkschaft insgesamt an Substanz verliere, glaubt Daniel Friedrich, Sprecher der Hamburger IG Metall, nicht. Zwar gebe es vereinzelt Austritte wegen Jobwechsels oder Arbeitslosigkeit, vor allem bei Werftarbeitern, aber nicht „scharenweise“. Den Risiken der Globalisierung will er mit zwei Maßnahmen begegnen: erstens mit der Beibehaltung der Flächentarifverträge als ein vernünftiges Korsett, um die Lohnkonkurrenz zwischen Unternehmen auszuschließen. Zweitens will Friedrich in die „Phantomdiskussion um die Arbeitszeitverlängerung“ als streitbaren Wert einbringen, dass „Arbeitnehmer arbeiten, um zu leben“.

Die 35-Stunden-Woche will er nicht aufgeben, sieht sie aber zukünftig mit einer Regelung für flexible Arbeitszeiten verknüpft. Bei Blohm + Voss etwa seien je nach Auftragslage flexible Arbeitszeiten vereinbart. Stünden Reparaturen an, müssten die Werftarbeiter übers Wochenende durcharbeiten und könnten sich dafür an Leerlauftagen freinehmen. Bei Airbus dagegen sieht er die „Schmerzgrenze der persönlichen Belastung“ erreicht. Hier liegt die Wochenarbeitszeit nicht bei 35, sondern grundsätzlich 38 Stunden pro Woche, seit 2003 werden flexible Arbeitszeiten über ein Dreikontensystem geregelt. Auch dieses Beispiel zeige, dass die Debatte um längere Arbeitszeiten überflüssig sei.

„Bei Abwanderungsdrohungen der Unternehmen können wir mit den Arbeitnehmern nur gemeinsam dafür streiten, die Jobs zu retten.“ In solchen Fällen könne die Gewerkschaft nicht mehr „als großer Tanker auffahren“, um die Rechte der Arbeitnehmer zu sichern, sondern „im Verbund mit großen und kleinen Schiffen“: Es gelte, die eigene Dialogfähigkeit zu verbessern, Nähe zu Arbeitnehmern und Betriebsräten aufzubauen und Bündnispartner zu gewinnen. Denn gute Betriebsräte, so Friedrich, „tragen auch zum guten Ruf von Gewerkschaften in den Unternehmen bei“.

Auch im aktuellen Fall der Abwanderungsdrohung des Hamburger Daimler-Chrysler-Werks nach Südafrika und Bremen sind die Betriebsräte gefragt: Sie unterstützen nicht nur den Protest der Beschäftigten gegen die Sparpläne des Autoherstellers, sondern klären die Arbeitnehmer auch über die Verhandlungen mit der Unternehmensspitze auf.

Hamburgs ver.di-Chef Wolfgang Rose will seine Gewerkschaft ebenfalls über neue Bündnispartner stärken. Interessant seien die Abweichler der politischen Parteien, mit denen das Image der „Trägheit“ der Gewerkschaften überwunden werden könnte. Und bei der CDU gebe es die CDA, die Christlich-Demokratische Arbeiterschaft.

Man müsse dabei auch an die Ursprünge der Gewerkschaftsbewegung erinnern. So besteht Rose zwar weiter auf seiner Aufgabe als Lobbyist, die Gesetzgebung zu beeinflussen. Ver.di gehöre aber auch auf die Straße, in den Kampf der Arbeitnehmer. Die Rechte aller Hamburger Bürger in der öffentlichen Daseinsvorsage könnten am besten durch direkte demokratische Mittel wie Volksentscheide und Volksbegehen vertreten werden. Die Bürger müssten „Hilfe zur Selbsthilfe“ erhalten – von den Gewerkschaften. Nur so könnten sie sich gegen Privatisierungsinteressen des Staates behaupten.

Doch gerade in der Einzelinteressenvertretung seien Gewerkschaften schwach, kritisiert HWP-Experte Hoffmann. Eine Gefahr liege in ihrer Fusionsfreude: In Großorganisationen, dafür sei ver.di bestes Beispiel, gehe der Einzelne unter. Punkten könnten die Gewerkschaften am ehesten im europäischen Rahmen. So berücksichtige die europäische Gesetzgebung auch Sozialstandards, die sich im Verbund mit anderen nationalen Gewerkschaften einklagen ließen. „Doch die deutschen Gewerkschaften“, so Hoffmann, „haben die europäische Ebene immer vernachlässigt.“