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: HELMUT HÖGE über den Weddinger Mix

„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“

Nachdem Nationalsozialismus und Krieg den „Roten Wedding“ nahezu platt gemacht hatten, entstand in den Siebzigerjahren mit Thaibordellen und Bumstourismus ein „Gelber Wedding“. Beide siechten zuletzt fast gemütlich vor sich hin – bis die wende- und globalisierungsbedingte Verarmung auch noch die Reste davon vertrieb. Eine Zeit lang geisterte der Bezirk, namentlich der Kiez nördlich der Bornholmer, als neuer „Slum“ durch die Presse. Aber auch hier, wie überall im Wedding, und das nicht erst seit gestern, gibt es viele unspektakuläre, dafür aber umso wirkungsvollere Basisinitiativen.

Die neueste stammt von Jens Hettwer, einem Hörgeräteakustikmeister, der 1980 in der Holländerstraße am Schäfersee sein erstes Fachgeschäft eröffnete. Hettwer ist in zweiter Ehe mit der türkischstämmigen Fatma verheiratet. Er hat zwei erwachsene Söhne aus erster Ehe und sie zwei fast erwachsene Töchter. Nachdem die beiden sich zusammengetan hatten, wurde die türkische Sprache für Herrn Hettwer langsam zur zweiten Heimatsprache.

Vor einem Jahr eröffnete er überdies in der Stettiner Straße ein zweites Hörgerätegeschäft speziell für türkische Kunden. Teile der Einrichtung kamen aus Istanbul, und es wurden zwei türkischsprachige Mitarbeiter eingestellt. Fast könnte man bei Jens Hettwer von einer umgekehrten Integration sprechen, seine neun Angestellten würden dies bestätigen.

Von einem befreundeten Schweizer Lehrer erfuhr das Ehepaar unlängst von einer Tagesschule für körperlich und geistig Behinderte in der Türkei – in Anamur –, dem die Schließung drohte, weil die Schüler dort mit Bussen aus den Dörfern abgeholt werden und es dabei Transportprobleme gab: nämlich aus Geldmangel nicht genug Sprit. Um diesen Mangel zu beheben, eröffneten die Hettwers ein Spendenkonto und initiierten eine „Deutsch-Türkische Festwoche“ – mit einer großen Tombola, deren Gewinne türkische und deutsche Geschäftsleute spendeten: ein Reisebüro z. B. eine Flugreise nach Istanbul – was dann der 1. Preis wurde (die insgesamt 50 Sponsoren rückten 100 Gewinne raus, es gab keine Nieten!). Dazu kamen dann noch Werbemaßnahmen – wie Plakate, Fähnchen für die Sonnenblumenkerne kauenden Kinder auf der Straße, ein türkisches Musiktrio, eine Bauchtänzerin aus Reinickendorf, „Hörtest-Aktionstage mit kostenlosem Hörgeräte-Check“, ein Fass „Eschenbräu“, hergestellt vom Weddinger Braumeister Martin Eschenbrenner, und ein üppiges Buffet, für das allein Frau Hettwer drei Tage lang Essen zubereitete.

Die Verlosung fand am letzten Tag in und vor dem Geschäft in der Stettiner Straße statt – inmitten eines gelungenen türkisch-deutschen Mix, wobei die Deutschen großenteils aus Altweddingern mit Hörproblemen bestanden, was sie jedoch nicht daran hinderte, laufend schnoddrige Bemerkungen zu machen. „Mutter, da kannste jets mittanzen!“, rief einer, als die Bauchtänzerin Daniela dran war. Die Zahnarztassistentin tanzt übrigens normalerweise nur im Winter, weil sie im Sommer Hochseejachten von der Ägäis in den Atlantik überführt.

Dann gab es da noch „Den Debattierer“, einen Kfz-Schlosser, der auf Ferraris spezialisiert ist – und nur reden, aber kein Los kaufen wollte. Ferner einen dicken Tombolagewinner, der mir erklärte: „Ich hab mir och so ’ne Lauscher hier jekooft. Aber ick vertrach se nich. Is war, weil meene Olle imma gesacht hat: ‚Mensch, musste den Fernseher so laut machen?!‘ “

Von Herrn Hettwer erfuhr ich dann noch, dass die Hörprobleme zunähmen – aufgrund der vielen Alten. 14 Millionen Hörgeschädigte gebe es bereits in Deutschland, „aber nur 1,5 Millionen tragen bisher ein Hörgerät“. Somit gebe es also noch viel zu tun für ihn, wären die Weddinger nicht „durch ständig neue Reformankündigungen aus der Politik so verunsichert, dass sie ihr Geld lieber in der Tasche lassen“.

Auch seine „Alman-Türk-Senligi Haftasi“ könnte sich zu einer regelmäßigen Einrichtung entwickeln, zumal er im nächsten Jahr sowieso 25-jähriges Geschäftsjubiläum feiert. Das Ehepaar Hettwer will jedoch erst mal die nachbarlichen Reaktionen abwarten (etwa per E-Mail an berlinakustik@aol.com) – und sich ansonsten von dem Stress erholen (siehe: www.fatma.biz).