schwabinger krawall: vorsicht mit folgen von MICHAEL SAILER
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Um nichts in der Welt kann sich die alte Frau Reibeis erklären, wieso sie vor Gericht stehen muss, wo sie doch niemandem etwas getan habe und eigentlich das Opfer, keinesfalls aber eine Verbrecherin sei. Der Richter, den das rigorose Auftreten der alten Frau ein wenig rührt, muss sie gleichwohl belehren, es lägen eine ganze Reihe von Anzeigen gegen sie vor. Mit einer Beleidigung gehe es los, unterlassene Hilfeleistung komme hinzu, die Ruhestörung sei vielleicht lässlich, aber bestimmt nicht die Körperverletzung, zumal sich diese auf einen Beamten im Dienst beziehe.

Beleidigt, sagt Frau Reibeis, habe sie niemanden, aber sie könne es sich auch nicht gefallen lassen, wenn sie alle zwei Stunden herausgeläutet werde, bloß weil wieder einer dieser Haderlumpen seine Reklamezettel in die Briefkästen stopfen müsse. Sie habe dem jungen Mann klar gemacht, dass es unhöflich sei, sich nach Ausführung seiner Tätigkeit ohne weiteres Wort davonzuschleichen. Der junge Mann habe sich nun erst recht davonschleichen wollen, und da habe sie ihm lediglich erklärt, dass er ein Stoffel sei.

Ob es wirklich beim Stoffel geblieben und nicht noch der eine oder andere in der Anzeige aufgeführte Begriff gefallen sei, fragt der Richter. Davon wisse sie nichts, stellt Frau Reibeis fest. Die meisten dieser Wörter kenne sie gar nicht. Eine Viertelstunde später habe es schon wieder geläutet, und da habe sie aber gar nicht erst aufgemacht. Woher sie denn hätte wissen sollen, dass es diesmal die Frau Hammler ist, der vor der Haustür der Schlüssel ins Kellergitter gefallen war! Dann habe diese Person auch noch statt einem Schlosser gleich die Polizei gerufen.

Ob sie nicht bedacht habe, dass sich die Zeugin Hammler Sorgen macht, wenn sie, die sonst immer zu Hause sei, plötzlich die Tür nicht öffnet, fragt der Richter. Wenn sich jemand sorgt, sagt Frau Reibeis, dann schimpft er doch nicht wie ein Rohrspatz herum und zeigt einen dann noch an! Frau Hammler, die schon daran gedacht hat, sich zu entschuldigen und die Anzeige zurückzuziehen, läuft rot an und schreit, es habe nicht sie geschrien, sondern die Frau Reibeis selber, was der Polizist bestätigen könne (der neben ihr sitzt und sein Gipsbein anschaut).

Sie habe den jungen Mann nicht körperverletzt, sagt Frau Reibeis, sondern ihm nur einen kleinen Stoß gegeben, woraufhin er über Frau Hammler gestolpert und die Treppe hinuntergefallen sei. Im Übrigen könne man in diesen Zeiten, wo man jeden Tag schreckliche Geschichten von Trickbetrügern liest, seine Besitztümer gleich aus dem Fenster werfen, wenn man jeden in die Wohnung lasse, der sich als Polizist ausgibt. Einen Dienstausweis könne jeder Halunke fälschen.

Der Richter ist versucht, Frau Reibeis zu fragen, wie sich ein echter Polizist ihrer Meinung nach kenntlich machen solle, aber er seufzt bloß, verzichtet auf weitere Vernehmungen und beschränkt das Strafmaß auf einen geringfügigen Geldbetrag, den Frau Reibeis gerne zu zahlen bereit ist. Weil der Richter kein Bargeld annehmen will, muss sie ihren Geldbeutel wieder wegpacken, jedoch nicht, ohne vorher dem verletzten Polizisten ein kleines Schmerzensgeld zuzustecken, das dieser mit einem verschämten Lächeln quittiert.