Ein Bild der Ratlosigkeit

Vor dem heutigen Aufbruch in die Alpen präsentiert sich T-Mobile, das Team des gestürzten Tour-de-France-Favoriten Jan Ullrich, weiter hochgradig verwirrt. Lance Armstrong rüstet zum Triumphzug

AUS NÎMES SEBASTIAN MOLL

Das Urteil der Fachwelt ist einhellig. 20 der 21 Mannschaftsleiter bei der Tour haben nach den Pyrenäen Lance Armstrong als Sieger getippt. Auf dem zweiten Platz sehen 18 Ivan Basso, dessen CSC-Teamchef Bjarne Riis sich als Einziger nicht auf Armstrong festlegen wollte. Elf vermuten Andreas Klöden als Dritten. Jan Ullrich trauen nur noch zwei einen dritten Platz zu. Auf dem zweiten Rang sieht Ullrich nur noch einer – Walter Godefroot.

„Ullrich auf dem Podium – daran glaube ich nicht mehr“, sagt Roger Legeay, der Chef der französischen Mannschaft Crédit Agricole. „Klöden ist besser als Ullrich“, meint Giancarlo Ferretti von Fassa Bortolo. Jean-Luc Jonrond von RAGT glaubt: „Andreas Klöden ist sehr stark, Ullrich eher weniger, und deshalb wird wohl T-Mobile die Karte Klöden spielen.“ Doch danach sieht es bislang nicht aus. Man tut sich schwer bei T-Mobile, sich mit den veränderten Realitäten abzufinden – abgesehen von Jan Ullrich selbst. „Ich fahre für den stärksten Fahrer in der Mannschaft“, sagte er schon nach der ersten Pyrenäenetappe, kaum als er am Mannschaftsbus angekommen war. Frustriert oder deprimiert klang das nicht.

Ullrich fügte sich verblüffend schnell in die Rolle des Verlierers. Doch man lässt ihn nicht. Ullrich bleibe der Kapitän, bekräftigte der sportliche Leiter Mario Kummer, und auch Andreas Klöden versicherte seine Treue: „An meiner Rolle ändert sich nichts. Ich fahre weiter für Jan.“ Ullrich selbst musste Klöden am Freitagabend im Hotel Ibis im Wallfahrtsort Lourdes von seiner dienenden Funktion entbinden. „Wenn du morgen die Beine hast, dann fährst du“, schärfte Ullrich seinem Freund und Trainingspartner ein.

So fuhr Klöden am Samstag dann erneut Ullrich davon, der sich ohne Helfer und abgehängt durch das Spalier von 100.000 tobenden baskischen Fans zum Plateau de Beille hochschraubte. Der Anblick hatte etwas Tragisches – ein einstiger Champion auf den Knien, eine 16 Kilometer lange Passion. Doch wie schon am Vortag sah Ullrich die Dinge nach der Ankunft am Berg nicht so dramatisch. „Das war doch schon ein Fortschritt gegenüber gestern“, meinte er. „Ich bin eigentlich ganz zufrieden.“ Die verblüfften Zuhörer konnten darüber nachgrübeln, was für ein Fortschritt das denn gewesen sein soll und womit Ullrich nun zufrieden war.

Ullrichs Ankündigung nach seiner Krise von 2002, er wolle es noch einmal wissen, erscheint angesichts der Leichtigkeit, mit der er sich in sein Schicksal fügt, als Lippenbekenntnis. Und die Signale, dass er es damit nur halb ernst meint, waren schon lange zu erkennen. Dass er wieder einmal übergewichtig und mit erkennbarem Trainingsrückstand aus dem Winter kam, etwa. „Man kann nicht erwarten, im Winter weniger zu trainieren und im Sommer dann besser zu sein“, sagte ein Angestellter einer anderen Tour-de-France-Mannschaft, der nicht genannt werden wollte.

Bei der Tour de Suisse und der Deutschland-Rundfahrt fuhr Ullrich ordentlich, und die Hoffnung keimte. Doch schon beim Prolog in Lüttich erwuchsen erste Zweifel, die sich verstärkten, als Ullrich als Taktik für die Berge nur zu bieten hatte: „Mitfahren, solange es geht, und dann schauen, wie die Beine sind.“

Die verwirrte Mannschaftsleitung will unterdessen nicht wahrhaben, dass ihnen das Fundament ihres ganzen Unternehmens wegrutscht. Das T-Mobile-Team ist – wirtschaftlich und von der PR-Konzeption her – ein Jan-Ullrich-Team, auch wenn insbesondere Walter Godefroot das lieber anders sähe. Deshalb lässt sich Godefroot auch Dinge gefallen, die ihm eigentlich gegen den Strich gehen: das merkwürdige Konstrukt mit Ullrichs Privattrainer Rudy Pevenage etwa, der Vorschläge machen darf, aber keine Entscheidungen treffen, der ins Hotel kommt, aber nicht im Mannschaftswagen sitzt.

Andreas Klöden, der vielleicht nicht die Tour gewinnen, aber der mit einem Podiumsplatz seinen Durchbruch schaffen kann, ist derweil verwirrt. Die Radsportwelt sieht ihn als den Mann, der dem Amerikaner in diesem Jahr am nächsten kommen kann. Seine Mannschaftsleitung sieht ihn hingegen noch immer als den Helfer von Ullrich, gleich wie oft er seinem Kapitän davonfährt. Um seine Vorgesetzten nicht vor den Kopf zu stoßen, versichert Klöden deshalb, Ullrich treu zu bleiben. Ullrich lässt hingegen beinahe Erleichterung durchblicken, dass er nicht mehr Kapitän sein muss. Um diesen Eindruck der Verwirrung nicht zu verstärken, verbot T-Mobile am Ruhetag in Nîmes seinen beiden Spitzenmännern jeglichen Pressekontakt. Doch das verstärkte nur das Bild der Ratlosigkeit. Für Andreas Klöden kann man bloß hoffen, dass die Abschottung die nötige Klarheit in der Mannschaft bringt. Die kommende Woche könnte die wichtigste seiner Karriere sein. Da würde es helfen, wenn sich das Team schnell von der Trauer um den Verlust ihres Stars erholt.