„Das ist das Ende der Marktwirtschaft“, sagt Heiner Flassbeck

Lohnsenkungen stärken den Standort nicht, sie schaden ihm. Sie verhindern neue Ideen und neue Produkte

taz: Herr Flassbeck, Daimler verhandelt mit seinem Betriebsrat über Lohnkürzungen im Werk Sindelfingen. Rettet das den Standort Deutschland?

Heiner Flassbeck: Es ist eher das Ende der Marktwirtschaft.

Das sieht Daimler anders.

Lohnkürzungen bedeuten im Ergebnis, dass ein Betrieb durch seine Angestellten subventioniert wird. Und Subventionen verzerren den Wettbewerb.

Aber verhält sich Daimler nicht marktwirtschaftlich? Nach dem Motto: In Bremen oder Südafrika wären die Lohnkosten niedriger?

Das wäre nur ein Argument, wenn sich die Arbeiter vollkommen frei bewegen und woanders neue Jobs suchen könnten – und wenn überall vergleichbare Fabriken stehen würden. Das aber ist nicht so. Tatsächlich werden die deutschen Beschäftigen mit der hohen Arbeitslosigkeit unter Druck gesetzt.

Trotzdem: Ist es denn nicht normal, dass ein Unternehmen seine Kosten senken will?

Natürlich muss jede Firma die Kosten drücken, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Aber deswegen kann ein Unternehmen doch nicht mit Aussicht auf Erfolg zu seiner Bank gehen und sagen: „Tut mir Leid, mein Gewinn ist mir zu niedrig. Ich kann jetzt nur noch den halben Zinssatz zahlen.“ Aber was bei den Kapitalkosten undenkbar wäre, das soll bei den Arbeitskosten Marktwirtschaft sein?

Unternehmensberater haben errechnet, dass Daimler im Vergleich zu BMW pro Fahrzeug 500 Euro teurer produziert. Wären sie so effizient wie BMW, dann hätten sie jährlich 580 Millionen Euro weniger Kosten.

In einer normalen Marktwirtschaft, also ohne den Druck der Arbeitslosigkeit, würden nicht die Löhne gekürzt – sondern Daimler müsste sich anstrengen. Also neue Ideen, neue Produkte, neue Maschinen.

Das dauert aber Jahre, Lohnkürzungen sind einfacher.

Das macht es scheinbar so attraktiv. Aber auch das Unternehmen leidet, wenn es nicht auf Produktivitätssteigerungen setzt – sondern auf Kostendumping. Denn es verliert die technologische Kompetenz, und die Konkurrenz wird früher oder später ebenfalls die Löhne senken. So entsteht eine Deflations-Lawine in ganz Europa. In den Niederlanden, in Frankreich, in der Schweiz wird schon heute über Lohnsenkungen diskutiert, um mit Deutschland mithalten zu können.

Aber haben die Unternehmen eine Alternative zur Lohnsenkung im Zeitalter des Shareholder-Value? Angeblich erwarten die Aktionäre eine Rendite von 15 Prozent, sonst würden sie nicht investieren.

Unsinn. So gut sind die Angebote auf dem Kapitalmarkt nicht – die Wirtschaft stagniert, die Zinsen sind nahe null. Erträge können nur durch Wachstum erzielt werden. Es hat nichts mit marktwirtschaftlichem Denken zu tun, wenn einzelne Unternehmen „beschließen“, dass sie eine 15-prozentige Rendite wollen. Das geht nur durch Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer, weil die Arbeitslosigkeit so hoch ist.

Aber auch viele Arbeitnehmer finden es übertrieben, dass bei Daimler Spätzuschläge schon mittags gezahlt werden.

Gegen den Abbau von Privilegien ist nicht unbedingt etwas zu sagen, wenn nur wenige profitieren und viele ausgeschlossen werden. Aber darum geht es nicht. Die Löhne sollen massiv gesenkt werden und das ist extrem gefährlich, da das bald viele Unternehmen in vielen Ländern machen müssen. Dieser Lohnwettbewerb führt in eine Katastrophe.

Viele Wirtschaftsforscher empfehlen niedrige Löhne.

Wenn die Löhne fallen, bricht die Binnennachfrage ein, wie wir das gesehen haben. Und dann fallen die Preise. Dann haben wir keine Stagnation mehr, sondern eine Rezession und Deflation. Darunter leiden auch die Unternehmen: Wie viele sind im Einzelhandel schon Pleite gegangen. Die großen Firmen begreifen nicht, dass sie den Kampf um die Renditen gegeneinander führen – und nicht nur gegen die Arbeitnehmer. Wie Henry Ford schon sagte: Autos kaufen keine Autos.

Kann das Großkonzernen nicht egal sein, solange der Export floriert?

Deutschland verzeichnet im Außenhandel tatsächlich unglaubliche Überschüsse. Folglich müssen die anderen Länder auf massive Lohnsenkungen des stärksten Wettbewerbers reagieren. Das gefährdet den gesamten Euro-Währungsraum.

Übertreiben Sie das Drama nicht ein bisschen?

Nein, wir steuern mit dieser Politik auf ein Desaster zu. Wenn überall die Löhne sinken und überall weniger konsumiert wird – dann wird überall das Wachstum ausbleiben. Auch der deutsche Lieblingstrick wird nicht funktionieren: auf die expandierende US-Wirtschaft zu hoffen.

Aber die wächst doch gerade.

Schon jetzt ist das Außenhandelsdefizit der USA enorm – weil nicht nur Europa, sondern auch Asien und Lateinamerika versuchen, ihre Wirtschaft dadurch zu stimulieren, dass sie in die USA exportieren. Auf Dauer werden die Amerikaner die Importüberschüsse begrenzen müssen und das wird zu einer radikalen Abwertung des Dollars führen. 1 zu 3 zum Euro ist möglich.

Optimisten könnten sich über sinkende Ölpreise freuen.

Was nützen billige Rohstoffe, wenn keine Abnehmer für die Endprodukte existieren? Es gibt keine Alternative zu einem florierenden Binnenmarkt. Die Lohnsenkung zerstört all das, was die deutsche Marktwirtschaft über 50 Jahre lang sehr gut funktionieren ließ.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN