Nur nicht in die Hosen machen

Wenn sich die deutschen Turner bei der WM in Anaheim nicht für die Olympischen Spiele 2004 in Athen qualifizieren, droht der traditionsreichsten Sportart der Absturz

BERLIN taz ■ Zwei Schwalben haben sich in die Halle verirrt. Und ein Schmetterling. Sie flattern etwas orientierungslos umher und werden ansonsten nicht beachtet. Die zehn jungen Männer mit den nackten Oberkörpern haben anderes zu tun. Sie machen ihre eigenen Flugübungen. Am Reck zum Beispiel. Wissenschaftler haben gemessen, dass Turner ihre Körper beim Abgang bis zu viereinhalb Meter in die Luft katapultieren. Dabei drehen sie zwei Salti, dazu eine oder zwei Schrauben. Und sie müssen die Orientierung behalten, damit sie auch noch kontrolliert auf der Matte landen können. Höhenflug? Oder gar Höhenrausch? Kaum. Eher harte Arbeit.

Die deutschen Kunstturner haben sich in Kienbaum auf die Weltmeisterschaften vorbereitet, die morgen in Anaheim/USA beginnen. Vier Wochen Trainingslager im märkischen Sand, im Bundesleistungszentrum 50 Kilometer östlich von Berlin. Hier wurden schon zu DDR-Zeiten die Spitzenathleten zusammengezogen. Ein Hauch von Ostalgie ist geblieben. Andreas Hirsch, der Chef-Bundestrainer, ist angetreten, um eine Mission zu erfüllen – und eine Schreckensvision zu verhindern. Um sich für die Olympischen Spiele 2004 in Athen zu qualifizieren, müssen die deutschen Turner – vor zwei Jahren nur WM-Dreizehnte – bei der WM in Kalifornien mindestens den zwölften Platz belegen. Ansonsten droht dem Turnen, das auch schon so nicht im Mittelpunkt des (Medien-)Interesses steht, der Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Eine Katastrophe für eine Sportart, die ein Turnvater namens Jahn 1811 „erfunden“ hat, als er auf der Berliner Hasenheide den ersten Turnplatz eröffnete.

Im Training kurz vor der WM hat der Chef besonderen Wert auf komplette Übungen gelegt, denn Stabilität ist im internationalen Vergleich wichtig. „Tierisch anstrengend“ fand Sven Kwiatkowski aus Chemnitz die Einheiten „und besonders vormittags richtig heftig“. Morgens um sieben standen die Jungs zum ersten Mal in der Halle, nach dem Frühstück noch einmal und nachmittags schließlich ein drittes Mal. Siebeneinhalb Stunden Turnen täglich – „das ist nicht einfach“, weiß Trainer Hirsch. Aber das Ergebnis ist jetzt sichtbar: Trotz ihrer Muskelberge sehen die deutschen Turner ausgemergelt aus. „Die anderen Teams sollen ruhig sehen, dass wir etwas trainiert haben“, findet der Chefcoach.

Die Tage in Kienbaum waren sehr konzentrierte Tage. Irgendwann hat Hirsch in einer eindringlichen Rede klar gemacht, was geschieht, wenn die deutsche Riege Olympia verpasst. „Jeder weiß, dass sein Arbeitsplatz dranhängt, Trainerstellen, Stützpunkte, Fördergelder – alles“, sagt Thomas Andergassen aus Stuttgart. Bis auf das 15-jährige Talent Fabian Hambüchen sind alle Sportsoldaten. Und warum sollte die Bundeswehr weiter Plätze für die Turner bereithalten, wenn die nicht mal olympisch sind? Es ist eine eigenartige Mischung aus Existenzangst und Liebe zum Sport, die die Athleten ins Straflager nach Kienbaum getrieben hat.

„Eigentlich sollten wir nicht dauernd daran denken, was passiert, wenn wir uns nicht qualifizieren“, sagt Stephan Zapf, der zweite Stuttgarter in der deutschen Riege, „aber wir tun es die ganze Zeit.“ Wenn sie in Anaheim ab morgen an den Geräten stehen, dann sollten die Turner in der Lage sein, den Schalter umzulegen. „Wir dürfen uns nicht in die Hosen machen, sondern müssen voll auf Angriff turnen“, sagt Thomas Andergassen. Was im Mannschaftswettbewerb gar nicht so einfach ist. Die Turner gehen zwar als Team in den Wettkampf, aber an den Geräten sind sie doch ganz auf sich allein gestellt. Ein Druck, der dazu da ist, ausgehalten zu werden. „Alle haben das gleiche Ziel“, sagt Cheftrainer Hirsch. Und: „Allen, auch den Ersatzturnern, wird der gleiche Dank gezollt, wenn’s klappt.“ JÜRGEN ROOS