GERHARD SCHRÖDER WILL SOZIALGESCHICHTE MACHEN – EINE ABSTRUSE IDEE
: Der kurze Arm der Politik

Wenn Politiker ihren Platz in der Geschichte selbst bestimmen wollen, dann wird es schnell peinlich. Schlicht falsch ist obendrein die Feststellung des Bundeskanzlers, sein „Reformpaket“ stelle eine der „größten Veränderungen in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik“ dar.

Mit dem anmaßenden Satz verkehrt Gerhard Schröder Ursache und Wirkung. Schließlich ist Sozialgeschichte ein Prozess, der sich ganz überwiegend in der Gesellschaft selbst vollzieht. Der Aufstieg des Bürgertums, die industrielle Revolution oder die Auflösung traditioneller Bindungen in der modernen Arbeitswelt – das alles sind Prozesse, die sich weitgehend ohne Zutun der Politik entwickelt und oft genug gegen sie durchgesetzt haben.

Wenig Erfolg blieb jenen Politikern beschieden, die glaubten, sie könnten selbst Sozialgeschichte „machen“. Vergeblich wehrte sich der französische Adel gegen die Emporkömmlinge des „dritten Standes“, vergeblich bekämpften die preußischen Ultrakonservativen Bismarcks Sozialgesetze, und vergeblich suchten die kommunistischen Machthaber in Osteuropa das Proletariertum aus der Zeit der Frühindustrialisierung zu konservieren.

Politiker können auf die Veränderungen der Sozialgeschichte nur reagieren, und sie können diese Entwicklung im besten Fall verzögern oder beschleunigen. Dieses Wissen um die Eigenständigkeit von Sozialgeschichte bedeutet keine Geringschätzung der Politik. Im Gegenteil. Auf diese Entwicklungen mit einer adäquaten Reformpolitik zu antworten, ist eine hohe Kunst. Von Bismarcks Sozialgesetzen bis zur Bildungsexpansion der Sechziger- und Siebzigerjahre reicht die Spanne solcher Reformen, die zu ihrer Zeit heiß umkämpft waren, im Nachhinein aber weithin akzeptiert wurden.

Wenn es so etwas wie historische Größe bei Politikern gibt, dann besteht sie gerade in ihrem Sensorium für diese Prozesse. An der immer größeren Ausdifferenzierung unserer Arbeitswelt etwa wird sich wenig ändern lassen, aber die Aufgabe der Regierung ist es, darauf zu reagieren. Würde Schröder diesen Zusammenhang verinnerlichen, dann wäre schon viel gewonnen. RALPH BOLLMANN