Die Tour de Finance

VON FRANK KETTERER

Es ist nun also doch nichts geworden mit dem Duell der Giganten an der steilen Rampe hinauf nach Alpe d’Huez, das sich die Macher so sehr herbeigesehnt hatten. Zwei Männer, ein Berg – so archaisch hatten es sich Jean-Marie Leblanc, der anscheinend allmächtige Direktor der Société du Tour de France, und seine Mitarbeiter ausgemalt. Was für einen wunderbaren Showdown würde das geben beim großen Sommerspektakel rund um Frankreich.

Davor würden sich der Texaner Lance Armstrong, auf dem Ritt zu seinem sechsten Toursieg und damit hinein in die Unsterblichkeit, und Jan Ullrich, das vermeintliche Radgenie aus Deutschland, zwar Tag für Tag beäugen, belauern und bekämpfen – eine Entscheidung aber würde erst auf den 21 Serpentinen nach Alpe d’Huez fallen. Und um dem Drama noch einen draufzusetzen, haben die Verantwortlichen in diesem Jahr die Quälerei in ihrer reinsten Form vorgesehen – als Einzelzeitfahren. Länge 15,5 Kilometer, Steigung 7,8 Prozent. Aufregender hätte das kein Hollywoodregisseur inszenieren können – Besucherrekorde garantiert, höchste Einschaltquoten dito. Frankreich – aus dem Häuschen, ach was: die ganze Radsportwelt. Und wild würde es in der Tour-Kasse klingeln.

Eine prächtige Geldmaschine

Es ist nichts geworden mit dem Duell. Heute geht es zwar hinauf nach Alpe d’Huez, aber die 91. Tour de France ist im Prinzip längst entschieden. Der in Frankreich ob seiner roboterhaften Kühle nicht eben beliebte Texaner wird sie gewinnen – zum sechsten Mal. Wie langweilig. Langeweile hat sich noch nie gut verkauft, aber bei la grande boucle spielt selbst das keine Rolle. Die Tour verkauft sich immer. Und, das ist das ganz Besondere: Jeder, der mit ihr zu tun hat, verdient daran. Die Etappenorte, die Sponsoren, die teilnehmenden Teams und natürlich – und weit vor allen anderen – la Société du Tour de France, der Veranstalter.

Die Tour ist nicht nur eine Geldmaschine, sie ist eine Geldvermehrungsmaschine. Und die funktioniert ebenso simpel wie prächtig: Die Medien berichten über das (eigens dafür erfundene) Spektakel, die Menschen kommen zu dem Spektakel, weil die Medien darüber berichten, die Sponsoren wiederum werden von beiden angelockt, von Medien und Menschen – und machen das Spektakel ihrerseits noch gigantischer. So ist aus dem Mythos längst ein Geschäft geworden – und aus dem „Geschäft mit dem Mythos“ (Der Spiegel) eine wirtschaftliche Spirale, die sich immer weiter und offenbar unaufhörlich nach oben dreht. In der Branche gibt es für dieses Geschäft sogar eine Rechenformel. Sie lautet: Jeder bei der Tour investierte Euro bringt zehn zurück. Mindestens!

Bernd Dallmann kann das nur bestätigen. Dallmann ist Geschäftsführer der „Freiburg Wirtschaft und Touristik GmbH“, und er hat vor vier Jahren die Tour ins sonst so verschlafene Schwarzwaldstädtchen geholt. Nur einen sonnigen Sommertag lang hat die radelnde Karawane damals Halt gemacht, darüber ins Schwärmen aber gerät Dallmann noch heute. „Das war ein Riesenfest für die Bevölkerung“, sagt er. Und es war, als Touristikchef hat ihn das nicht minder begeistert, Riesenwerbung für die Stadt – und das auch noch weltweit.

„All die Werbeminuten im Fernsehen, all die Geschichten in den Zeitungen und Illustrierten“, erinnert sich Dallmann: „Das kriegen Sie nie mehr so billig“. 350.000 Mark Gebühr musste die Stadt Freiburg damals an die Société überweisen, um Etappenzielort zu werden, mit einem Defizit von alles in allem 240.000 Mark schloss die Breisgaumetropole ihr Tour-Abenteuer ab. Und dennoch sagt Dallmann: „Was wir da an Geld reingesteckt haben, ist mehrfach wieder rausgekommen.“ Genaue Zahlen, das müsse man verstehen, kann Dallmann freilich nicht nennen. Stadt- und Touristikmarketing berechnet sich kompliziert.

Die Zahlen der Tour de France hingegen gehen so: Durchschnittlich knapp 4 Millionen Franzosen schauen heutzutage täglich im Fernsehen zu, wenn die Helden der Straße durchs Land leiden, rund 2 Milliarden in 170 Ländern der Erde sind es jährlich insgesamt, über 15 Millionen Menschen wiederum verfolgen das Spektakel live an der Strecke. Damit hat es die Tour de France nach Fußball-WM und Olympischen Spielen zum drittgrößten Sportereignis gebracht, jedenfalls gemessen am Medieninteresse. Entsprechend groß ist somit auch das Interesse der Werbewirtschaft.

Man darf der Tour de France das nicht vorwerfen, ganz im Gegenteil, sie wurde vor über 100 Jahren schließlich dafür erfunden: um unglaubliche Geschichten zu schreiben, die sich verkaufen lassen. Und so war „die Große Schleife“ von Anfang an neben all dem Sport, der ja schon auch geboten wird, vor allem eines – ein Medienereignis. Mehr noch: Ein von einem Medium für das Medium geschaffenes Event, in erster Linie dem einen Gedanken verpflichtet: Auflagensteigerung.

Frankreich lechzte nach Helden

Neu war diese geschäftstüchtige Idee freilich schon damals nicht, bereits im Jahr 1891 und damit zwölf Jahre vor der ersten Tour de France, veranstaltete Le Vélo, damals Frankreichs größte Sportzeitung, die bei den Lesern überaus beliebte Radfernfahrt von Bordeaux nach Paris, immerhin 500 km, über die die Zeitung ausführlich und exklusiv berichtete. Die 1900 neu gegründete Konkurrenz von L’Auto konnte da nicht zurückstehen, wollte sich andererseits aber auch einfache Nachahmerei nicht nachsagen lassen. So hatte Henri Desgrange, Chefredakteur von L’Auto, mehr oder weniger nur diese eine Möglichkeit: ein Ereignis zu schaffen, das alles Bisherige in den Schatten stelle: Die Tour de France.

Das Konzept ging von Beginn an auf. Die 93.000 Exemplare mit dem Bericht über die allererste Tour-Etappe von Paris nach Lyon waren im Nu vergriffen. Frankreich, das wusste Desgrange ab sofort, lechzte nach den Geschichten der neuen Helden. Auch die Wirtschaft wollte sich dem Ereignis nicht lange verschließen. Naturgemäß war es vor allem die Fahrradindustrie, zu jener Zeit ein durchaus bedeutender Wirtschaftszweig, die recht bald schon aufsprang.

Die erste Werbekolonne

Die Tour wurde – ähnlich wie heute die Formel 1 für die Autobauer – zur Werbe- und Entwicklungsstube der Fahrradbauer, bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren entsprechend ganze Werkteams unterwegs. Doch bald schon wurde Henri Desgrange der Einfluss der Radindustrie auf das Rennen zu groß, der Tourdirektor entledigte sich ihrer im Jahr 1930 mit einem wirtschaftlich ebenso klugen wie bahnbrechenden Schachzug: Er akquirierte erstmals spartenfremde Wirtschaftsunternehmen, die vor dem Fahrerfeld herfuhren. Die erste Werbekolonne war geboren. Und es ließ sich mit ihr auf Anhieb so gut und viel Geld verdienen, dass Desgrange seine Tour von der mächtigen Fahrradindustrie abkoppeln konnte: Die Werksteams wurden aufgelöst, Nationalteams eingesetzt – und gefahren wurde auf einheitlich gelb lackierten Fahrrädern.

Zwar ist der gelbe Lack längst schon wieder ab, ansonsten aber hat sich am Prinzip des Geldverdienens bei der Grande Boucle gar nicht so viel verändert – außer den Summen natürlich – und dem Tamtam, mit dem sie umgesetzt werden und das die Tour laut Spiegel zu „Frankreichs größter, lautester und ältester PR-Maschine“ hat werden lassen. „Die Tour wird perfekt verkauft“, sagt Jean-Marie Leblanc, aktueller Tourdirektor und damit einer von Desgranges Nachfahren. Das ist zum einen nicht frei von Eigenlob, vor allem aber ist es wahr, auch wenn – durchaus branchentypisch – in der Öffentlichkeit über genau Zahlen natürlich nicht gesprochen wird.

Fest in der Hand der Medien

Dafür gibt es Insiderberichte, die zusammengefasst in etwa so gehen: Bei einem Umsatz von rund 50 Millionen Euro soll der Gewinn bei bis zu 15 Millionen liegen. Für rund 45 Prozent der Einnahmen sorgen die 24 Sponsoren, Partner und offizielle Lieferanten wie Fiat, Crédit Lyonnais, Nestlé oder Coca-Cola, die bis zu 4 Millionen Euro berappen, um mit von der Tour-Partie zu sein; rund 5 Prozent steuern Etappenorte wie Freiburg bei, die restlichen 50 Prozent werden durch den Verkauf der Fernsehübertragungsrechte aufs Konto der Société du Tour de France gespült.

Darin noch gar nicht eingerechnet ist freilich die Absatz- und Umsatz-Steigerung des L’Auto-Nachfolgeblattes und heutigen Tour-Spachrohrs L’Equipe während der drei Sommerwochen: Um bis zu 25 Prozent auf rund 500.000 Exemplare steigert das Blatt während der Tour den Absatz. Um das bewerkstelligen zu können, berichten täglich über 20 Journalisten auf gut fünf Zeitungsseiten über das Spektakel und sind dabei emsig bemüht, den alten Mythos am Leben zu halten und immer neuen Helden das Leben zu schenken.

Die Tour ist somit auch weiterhin fest in Medienhand – und selbst L’Equipe ist dabei nur ausführendes Organ und eigentlich ein kleines Rädchen. Genau genommen ist es nämlich die Pressegruppe Amaury, die mittlerweile das Sagen hat – und das nicht nur bei L’Equipe. Der Medienriese, in Deutschland durchaus vergleichbar mit Springer, gibt auch die Boulevardpostillen Aujourd’hui und Le Parisien sowie mehrere Regionalzeitungen heraus und setzt damit jährlich rund 450 Millionen Euro um. Für das sportliche Engagement des Unternehmens wiederum wurde eigens die „Amaury Sport Organisation“ (ASO) gegründet, die pro Jahr rund 90 Millionen Euro umsetzt und unter anderem auch die Wüstenrallye Paris–Dakar veranstaltet. Mit rund 80 Prozent ist allerdings der Radsport das Kerngeschäft der ASO, unter anderem die Rennen Lüttich–Bastogne–Lüttich, Paris–Roubaix sowie Paris–Nizza. Allesamt Klassiker – und doch mitfinanziert von den Überschüssen der Tour, wie Marketingdirektor Jean-François Richard einräumt. „Die Tour ist das, was rentabel ist“, sagt der Amaury-Mann. Rentabel – was für ein netter Ausdruck für ein Millionengeschäft wie die Tour de France.