Trauma allein durch Zusehen

Opfer von Gewalttaten werden betreut, Zeugen nicht. Die müssen selbst sehen, wie sie mit schrecklichen Bildern wie denen in der „Berliner Freiheit“ fertig werden

Eine Therapeutin: „Die Selbstheilungskräfte sind ungeheuer groß.“

Bremen taz ■ Eine schreckliche Szene muss es gewesen sein am Donnerstagvormittag im Vahrer Einkaufszentrum „Berliner Freiheit“: Ein Mann sticht wie von Sinnen auf seine Ehefrau ein (siehe Meldungsspalte), Passanten versuchen, den Mann loszureißen und schaffen es schließlich auch, doch für die Frau kommt jede Hilfe zu spät. Sie stirbt. Ihre 13-jährige Tochter wird jetzt von einem Polizeipastor betreut. Die Helfer hingegen hätten eine Betreuung abgelehnt, so Polizeisprecher Ronald Walther. „Wir haben gefragt, aber die haben gesagt, sie können mit Freunden darüber sprechen.“

Doch was ist mit denen, die es „nur“ mit angesehen haben, die erlebten, wie sich die Verkäuferin blutüberströmt am Boden windet? Die müssen sehen, wie sie damit fertig werden, denn die Polizei hat dazu keine Handlungsanleitung für ihre Beamten. „Wir fangen nicht jeden Passanten ein und fragen, ob sie das verkraften können“, bestätigt der Sprecher Walther.

Das sei kein Problem der Bremer Polizei, sondern ein strukturelles, sagt der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover und ehemalige niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer. „Unsere Polizei ist primär daran orientiert, den Täter zu fassen, die Arbeit mit den Opfern ist nur ein Nebenschauplatz“, kritisiert er. Der Kreis derjenigen, die als Opfer gelten und als solche betreut werden, sei darüber hinaus sehr eng gezogen. „Als Zeugin müssen Sie schon mit Blut bespritzt sein“, bringt der Kriminologe das Problem auf den Punkt. Doch auch ein Zeuge könne zum Opfer werden, wenn er oder sie einen tiefen seelischen Schock erleidet, sagt der Kriminologe. „Solche Bilder bleiben lebenslang im Kopf.“ Allerdings würden die meisten mit solchen Erlebnissen erstaunlich gut fertig.

„Die Selbstheilungskräfte sind ungeheuer groß“, bestätigt die Sozialarbeiterin und Therapeutin Christiane Stuber von der Opferhilfe Oldenburg. Elf dieser Einrichtungen gibt es in Niedersachsen – unter dem Dach einer bundesweit einmaligen Stiftung, die vom damaligen Justizminister Pfeiffer angeschoben wurde. In einen Fonds werden Bußgelder eingezahlt, mit denen die Opfer auch die Folgekosten eines Schock-Erlebnisses bezahlen können. Doch so eine Trauma-Therapie ist nicht in jedem Fall zu empfehlen, sagt die Opferhelferin Stuber: „Es gibt Studien, die gezeigt haben, dass so ein Ereignis den Betroffenen viel präsenter bleibt, weil sie sich so intensiv damit beschäftigt haben.“ Es helfe aber immer zu reden, „dem Schrecken einen Namen zu geben“.

Die niedersächsischen Opferhilfen hätten auch immer wieder Anfragen aus Bremen, wo es etwas Vergleichbares nur für Jugendliche und Frauen gibt. Und Zeugen einer Gewalttat wie die in der Berliner Freiheit hätten sich bisher kaum an sie gewendet, sagt Stuber. Es hänge außerdem immer davon ab, in welcher Verfassung sich jemand befindet und was als besonders schlimm erlebt wird. „Für einige ist vielleicht ein Diebstahl viel heftiger als körperliche Gewalt.“ Und nicht immer würden die Betroffenen sofort merken, dass es sie mehr belastet als angenommen. „Die Einwirkungsphase dauert meistens eine Woche – das Erlebnis kommt häufig dann zurück, wenn man sich in einer ähnlichen Situation befindet, zum Beispiel wieder einkaufen geht.“

Eiken Bruhn