Nieder mit dem Tarifkartell!

Aber: Finger von der Tarifautonomie! Denn gerade die Unternehmer dürfen kein Interesse daran haben, Merz, Westerwelle, Henkel & Co zu folgen

Das Tarifsystem erspart den Betrieben, die Arbeitsbeziehungen selbst zu ordnen und zu regeln

Selten war es in der Politik so einfach, mit Kritik an den Gewerkschaften Punkte zu sammeln. Verständlich, denn die Arbeitnehmervertretung gab den potenziellen Wählern allen Grund, den Kopf in diesem Jahr gleich mehrmals zu schütteln – angefangen beim Schlingerkurs des DGB bezüglich Schröders Sozialreformen über das Streikdesaster im Osten bis zum Ränkespiel um die Führung der IG Metall. „Entmachtung der Gewerkschafter“, fordert Guido Westerwelle (FDP). Die betriebliche Mitbestimmung muss „überprüft werden“, sagt Friedrich Merz (CDU). Und Hans-Olaf Henkel (Ex-BDI-Chef) meint: „Es wird Zeit, dass wir das Tarifkartell auflösen.“

Ist das lediglich die populistische Kraftmeierei der üblichen Verdächtigen? Oder sind tatsächlich Einschnitte in die Tarifautonomie notwendig, um die Lohn- und Arbeitsmarktpolitik auf die Flexibilitätsanforderungen im Zeitalter der Globalisierung einzustellen? Sowohl als auch.

Henkel & Co haben Recht, wenn sie das „Tarifkartell“ abschaffen wollen. Sie zielen damit auf die eingeübten Rituale zwischen den Tarifpartnern, Gewerkschaft und Arbeitgebern, und die Interessenpolitik der Funktionäre. Diesen geht es oft mehr um den Erhalt der eigene Machtposition als darum, auf wirtschaftliche Entwicklungen flexibel und realitätsnah zu reagieren. Sie klammern sich krampfhaft an den Status quo – und beschleunigen so den eigenen Machtverlust und den der Tarifparteien im Allgemeinen.

Die letzten Metaller-Verhandlungen im Osten haben die diesbezüglichen Defizite kenntlich gemacht. Und zwar, das wird im allgemeinen Gewerkschafts-Bashing gern übersehen, auch aufseiten der Unternehmen. Immer mehr Betriebe verlassen den Tarifverbund. Heute sind im Osten nur noch 10,5 Prozent der Betriebe, also 27,1 Prozent der Arbeitnehmer im Metallsektor, an den Flächentarif gebunden. Hier von einer Interessenvertretung der Mehrheit zu reden hieße sich der Arroganz der Funktionäre in den Arbeitnehmer- wie Arbeitgeberverbänden anschließen.

Der Ruf nach Abschaffung der Tarifautonomie scheint gerade nach den Entwicklungen im Osten nahe liegend. Doch: Was soll denn an die Stelle der Tarifautonomie treten? Da wird beim Lamento nicht zu Ende gedacht: Niemand wird Interesse daran haben, dass der Staat diese Aufgaben übernimmt. Neben der Arbeitgeberrolle im öffentlichen Dienst hätte er dann auch maßgebliche Mitsprache bei der Lohnfindung und der Aushandlung von Arbeitsbedingungen in anderen Bereichen. Das „neokorporatistische“ Modell, das gerade als ergänzende Interessenvermittlung durch die Verbände abseits des parlamentarisch-parteienstaatlichen Systems konzipiert wurde, wäre gesprengt.

Der Staat hätte eine Monopolstellung, die die Väter des Grundgesetzes mit der Betonung der Tarifautonomie bewusst vermieden haben. Zu offensichtlich ist bei einem solchen Modell, dass wirtschaftliche Entscheidungen unter die Knute parteipolitischer Interessen geraten. Bleibt also nur die Verlagerung der Verhandlungen in die Betriebe, die Individualisierung der Arbeitsbeziehungen?

Das deutsche Tarifsystem, das System kollektiver Verträge zu Löhnen und Arbeitsbedingungen, unterliegt einer gewissen Rationalität. Eben weil sie zentral ausgehandelt werden, bleibt es den Betrieben erspart, die Arbeitsbeziehungen selbst zu ordnen und zu regeln. Die verbindlich festgelegten und einheitlichen Arbeitsbedingungen schenken dem Unternehmen ein hohes Maß an Planungssicherheit – und vergleichbare Bedingungen im Wettbewerb.

Die Regelungshoheit in die Betriebe zu verlagern würde dagegen eine Reihe negativer Folgen zeitigen. Vor allem eben für die Unternehmen. Diese müssten plötzlich die Verhandlungskosten tragen – das betrifft sowohl Zeit als auch Geld. Kosten, die die Mitgliederbeiträge für den Arbeitgeberverband mit Sicherheit übersteigen. Das mag für Unternehmen wie DaimlerChrysler oder VW zu tragen sein, nicht aber für kleinere mittelständische Betriebe, die in der Mehrzahl sind.

Gerade hier fehlen oft arbeitsrechtliche Kenntnisse. Die Regelung von Verteilungsfragen könnte zudem das Betriebsklima belasten, während gegenwärtig Betriebsrat und Arbeitgeber eine im Allgemeinen kooperieren, weil beide Seiten ein Interesse an wirtschaftlichem Erfolg ihres Betriebs haben. Und bei Firmen, die in eine missliche wirtschaftliche Lage geraten, wird diese Kooperation – gedeckt übrigens durch den Tarifvertrag – sogar noch größer. Oft sind Einkommensverzicht auf der einen und Beschäftigungssicherung auf der andern Seite kompromissfähige Strategien.

Ohne eine allgemeine Tarifregelung fänden sich die eigentlich Kooperierenden in einer Konfliktsituation wieder. Das kann auf keinen Fall im Interesse der Unternehmen sein: Schließlich wissen die Betriebsräte – anders als womöglich ihr Dachverband – punktgenau, wo sie das Unternehmen im möglichen Eskalieren des Konflikts treffen könnten: mit wochenlangen Streiks. Sollte dieser Fall eintreten, werden sich die Firmen die guten alten Zeiten des Flexi-Streiks zurückwünschen, wo Betriebe tageweise bestreikt werden, um den finanziellen Verlust so gering wie möglich zu halten.

Die Forderungen nach Abschaffung der Tarifautonomie werden begleitet von einer Mär: der mangelnden Flexibilität, der Starrheit des Tarifsystems. Beispiele, die das Gegenteil besagen, gibt es zuhauf: Öffnungs- und Härtefallklauseln, die in 35 Prozent aller Betriebe in der Praxis genutzt werden. Darunter fallen variabel geregelte und gar verlängerte Arbeitszeiten, niedrigere Einstiegstarife bei Lohn und Gehalt sowie für die Unternehmen nach Auftragslage einsetzbare Arbeitszeitkorridore.

Ohne allgemeine Tarifregelung befänden sich Gewerkschaften und Arbeitgeber in ständigen Konflikten

Gewiss: Die Flächentarife haben den Nachteil, weder unterschiedliche Strukturen verschiedener Branchen noch Ungleichzeitigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung der Firmen wirklich zu berücksichtigen. Sinnvoll ist eine neue Interpretation durch die Tarifparteien. Auch im eigenen Überlebensinteresse.

An dieser Stelle kommen auch wieder die Betriebe ins Spiel. Tarifautonomie richtig verstanden heißt nämlich: einen Rahmen verbindlicher Regeln schaffen, der die Arbeitsbedingungen reguliert, aber eben nicht überreguliert – um den besonderen Charakteristika der Betriebe genügend Raum zu verschaffen. Nur ein Beispiel: Warum sollte in Betrieben, die überdurchschnittlichen Erfolg haben, nicht nachverhandelt werden können, wenn es um die finanzielle Teilhabe der Arbeitnehmer geht?

Es ist Gleichmacherei, wenn ein Arbeiter in der starken Automobilbranche genauso viel (oder wenig) Lohnzuwachs einstreicht wie einer in der eher schwachen Textilindustrie. In dieser Hinsicht müssen sich die Gewerkschaften bewegen – und nicht an Maximalforderungen für alle Branchen hängen bleiben. Damit wäre sowohl Arbeitnehmervertretungen als auch Arbeitgeberverbände geholfen: Sie würden für die Betriebe und deren Arbeitnehmer wieder attraktiver. Und den Unternehmen bliebe vieles erspart. THILO KNOTT