die späte tochter von JAN ULLRICH
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Als meine Tochter geboren wurde, war sie 22 Jahre alt, trug einen Vollbart und hatte eine tiefe Stimme. „Das ist nichts Ungewöhnliches“, beruhigte mich der Arzt, „so etwas kommt jetzt dauernd vor“, und schob zwei 76-Jährige im Rollstuhl ihren Eltern entgegen.

Kaum bei uns eingezogen, stellte meine Tochter die Möbel um, saugte kurz durch und stellte ein Paar Blumen ins Fenster. Meine Frau und ich wohnten seitdem in einem Lieferkarton, den wir uns zeitweilig mit einem Versicherungsvertreter und seinen beiden Bediensteten Bernd und Britta teilen mussten.

Nach einem Jahr sprach meine Tochter das erste Mal mit uns, als sie beinahe beiläufig bemerkte: „Ein fundamentaler Irrtum Kants in frühen Jahren war es, zu sehr auf die Heimstärke von Fortuna Königsberg zu vertrauen und den kargen Hauslehrerlohn Monat für Monat allzu sorglos im Toto aufs Spiel zu setzen.“ Anschließend belegte sie einen Kurs für frühkindliche Darmspiegelung, den sie mit dem Abitur für Innereien und Kristallgegenstände abschloss.

Gerade erst flügge, startete sie eine Karriere als Model für die Kampagne „Wollen Sie wirklich, dass Ihr Zahnarzt so aussieht?“. Schließlich rasierte sie sich die Waden und das Gesicht und sang die Anfangsmelodien von Nachrichtensendungen ein.

In diese Zeit fällt auch die erste intensive Beziehung mit dem norwegischen Hundetrainer Hagen Sundström, der sich ihr gegenüber als Professor für Kunstgeschichte ausgab. Tatsächlich fand sich in seinen Unterlagen später eine nicht vollendete Doktorarbeit mit dem Titel „Die ziemlich verworrene Architektursprache der Koyaanisqatsi-Indianer“, welche in der These „Die große Schieflage erweitert die Ebene“ gipfelte.

Die Enttäuschung ihrer ersten großen Liebe versuchte meine Tochter als Künstlerin zu verarbeiten. Dabei schuf sie drei Zyklen, die sie „Die durchsichtige Periode“, „Die undurchsichtige Periode“ und „Die Periode für Leute mit Kassengestellen“ nannte und mit denen sie den Mensch der Moderne als „geselligen Typ, der gern mal einen draufmacht“ zu beschreiben versuchte. Letztlich erfolglos verkroch sie sich dann 14 Jahre hinter einer Stellwand, auf der „Bitte dreimal klopfen, ich bin Brite!“ stand.

Erst gegen Ende ihres Lebens fand sie ihr Glück in den Armen von Ruben Kauffmann, einem australischen Bossa-nova-Interpreten, der mit der Ballade „Selbstbestimmter Freiheitsdrang oder fremdbestimmter Daseinszwang“ einst große Erfolge gefeiert hatte. Der Erfolg ermöglichte ihm ein Leben in materieller Unabhängigkeit, gleichzeitig sah er sich aber dem ständigen Interesse der Öffentlichkeit ausgesetzt. Später verarbeitete er diese Lebensphase, verbittert und haarlos geworden, in dem Gedichtzyklus „Vernunft – Spielball des Irrsinns“.

Mit den Jahren alterte meine Tochter immer schneller, sodass sie schon bald das stolze Alter von 89 Jahren erreicht hatte. Ihre letzten Worte waren: „Niemand hat so feuchte Haut wie du.“ Dabei streichelte sie selbstvergessen eine Gruppe Kaulquappen in meiner Achselhöhle. Ihr Grabstein zitiert nun den großen Pianisten Salchow: „Das schlechteste indische Restaurant der Stadt ist das Kalkutta-Steakhouse!“