Ohne Rücksicht auf Lobbyisten

Krebsvorsorge ist nicht immer gut – und schon gar nicht so, wie sie das deutsche Früherkennungsprogramm empfiehlt. Es entspricht nicht dem Stand der Forschung

Die deutschen Krebsexperten bräuchten eine gehörige Portion Mut dazu, ihre Irrwege einzugestehen

Der kürzlich veröffentlichte „Europäische Kodex gegen den Krebs“ ist eine segensreiche Sache. Denn wer die 11 Regeln des Kodex befolgt, kann sein Krebsrisiko wirklich vermindern. Das Außergewöhnliche an dem Kodex: Die 42 internationalen Experten, die für ihn verantwortlich zeichnen, haben offenbar penibel darauf geachtet, sich auf dem Boden der Wissenschaft zu bewegen. Auf Lobbyinteressen und einzelstaatliche Sonderwege nahmen sie keine Rücksicht. Das ist mutig.

Bislang ist die Vorstellung verbreitet, dass Vorsorge immer gut ist, da sie Krankheiten in heilbaren Stadien erkennt. Doch allmählich reift die Erkenntnis, dass Vorsorge auch schaden kann, durch Fehlalarme, überflüssige Diagnosen und Therapien. Das belegt auch der Kodex. Zudem ist es mit dem Überlebensvorteil der Menschen, die zur Vorsorge gehen, nicht allzu weit her. Studien, die den Nutzen der Maßnahmen untersuchen, sind die Ausnahme. Wenn es sie gibt, ist der ermittelte Überlebensvorteil nicht überwältigend. Da sich Vorsorge an meist Gesunde richtet, muss die Bilanz aus Schaden und Nutzen besonders kritisch betrachtet werden.

Auch der Krebsinformationsdienst KID des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg ist eine sinnvolle Einrichtung, denn hier können sich Patienten und ihre Angehörigen Rat und Hilfe holen. Wenn also der KID dem „Europäischen Kodex gegen den Krebs“ eine eigene Broschüre widmet, sollte das Ergebnis von großem Nutzen sein. Weit gefehlt. In der Broschüre „Schutz vor Krebs“ biegt sich der Krebsinformationsdienst die europäischen Empfehlungen nach eigenem Gutdünken zurecht – mal übernimmt er die Kodex-Regeln penibel genau, mal wandelt er sie frei ab und mal verkehrt er sie ins Gegenteil. Offenbar will sich der KID mit dem Etikett einer internationalen Empfehlung schmücken, ohne dabei die eigene Position in Frage zu stellen. Ein zweifelhaftes Verfahren.

Vor allem in den drei Kodex-Regeln, die sich auf die Krebsfrüherkennung beziehen, weicht die Broschüre recht großzügig vom Original ab. Kein Wunder: Während der Kodex sich am Stand der Wissenschaft orientiert, folgt die KID-Broschüre bedingungslos dem historisch gewachsenen deutschen Früherkennungsprogramm.

Während der Kodex Frauen ab 25 Jahren alle fünf Jahre einen Pap-Abstrich zur Vorsorge des Gebärmutterhalstumors empfiehlt, rät die KID-Broschüre schon ab 20 zur Kontrolle beim Frauenarzt – und das jährlich. Von der Einbindung in ein qualitätskontrolliertes Programm, wie sie der Kodex fordert, ist in der Broschüre keine Rede. Hierzulande wird seit 30 Jahren ein so genanntes opportunistisches Screenen betrieben: ohne Kontrolle und statistische Auswertung. Wie groß der Schaden der Früherkennung ist und wie groß der Nutzen, bleibt so ungewiss.

Bei der Brustkrebs-Früherkennung kommt das Mammografie-Programm, wie es derzeit deutschlandweit eingeführt wird, den Kodex-Empfehlungen immerhin recht nahe, wenngleich der Kodex zur Brustdurchleuchtung alle drei Jahre rät, das deutsche Programm alle zwei Jahre empfiehlt. Beim Wert des Abtastens gehen die Ansichten jedoch auseinander: „Die Belege sind ungenügend, um ein regelmäßiges Selbstabtasten zu empfehlen“, heißt es in der aktualisierten Fassung des Kodex. „Führen Sie die Selbstuntersuchung jeden Monat durch“, predigt die KID-Broschüre – und ist damit auf dem Stand der Kodex-Fassung von 1995.

Während der Kodex zur Darmkrebs-Früherkennung lediglich einen Blutstuhltest für Männer und Frauen ab 50 alle zwei Jahre empfiehlt, führt die KID-Broschüre auch die Darmspiegelung an, die das deutsche Programm seit eineinhalb Jahren anbietet. Was dabei unter den Tisch fällt: Der Wert der Spiegelung wird derzeit erst in großen Studien ermittelt.

Alle Maßnahmen, die über Pap-Test, Mammografie und Blutstuhltest hinausgehen, so stellt der Kodex abschließend fest, „sollten entweder gar nicht oder nur im Rahmen eines Forschungsprogramms, das ihren Wert ermitteln soll, angeboten werden“. Die KID-Broschüre rät hingegen zu weiteren Verfahren: dem Begutachten der Haut, dem Abtasten der Prostata und dem Selbstabtasten der Hoden.

Noch schwerer als all diese Differenzen wiegt die Grundhaltung, die in der Broschüre in jedem Satz mitschwingt: der unbedingte Glauben an den Segen der Krebsfrüherkennung – unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Bewertung. Dabei kritisiert der Kodex diese Haltung ganz explizit: „Es ist wichtig, dass Gesundheitsbehörden der Versuchung widerstehen, Vorsorgeprogramme einzuführen, bevor es überzeugende Belege für ein Senken der Sterblichkeit gibt.“ Die Annahme eines Nutzens sollte keine ausreichende Grundlage für die Einführung großer Programme sein.

Während die Broschüre des Krebsinformationsdienstes sich zumindest an manchen Stellen, etwa bei der vorsichtigen Wertung des PSA-Tests zur Früherkennung des Prostatatumors, um Nähe zum Kodex bemüht, treibt der kleine Ratgeber „Zehn Regeln gegen den Krebs“ der Deutschen Krebshilfe den Missbrauch des Kodex auf die Spitze. Aus den beiden Regeln, die sich nur auf die Brust- und Gebärmutterhalskrebs-Früherkennung beziehen, macht die Krebshilfe kurzerhand die Regel, man solle jährlich zur Krebsvorsorge gehen – frei nach der Devise: Vorsorge ist immer gut. Was dann folgt, ist schlicht die exakte Beschreibung des deutschen Früherkennungsprogramms.

Der Krebsinformationsdienst biegt sich den Europäischen Kodex nach eigenem Gutdünken zurecht

Die Krebshilfe kann daran nichts Verwerfliches finden. Die Kodex-Regeln seien in Absprache mit der Deutschen Krebsgesellschaft und dem Krebsforschungszentrum den deutschen Verhältnissen angepasst worden – als wäre der Kodex nur eine ungefähre Richtlinie, die nach Belieben ausformuliert werden könne. Genau das Gegenteil ist richtig: Der Kodex vertritt klare Standpunkte, die von den Broschüren aufgeweicht werden.

Dass die deutschen Krebsexperten sich scheuen, ihr jahrzehntelang propagiertes Programm in Frage zu stellen, hat mehrere Gründe: Zum einen wird befürchtet, dass es die Menschen verunsichern könnte, wenn sie plötzlich mit Schaden-Nutzen-Abwägungen konfrontiert werden, wo vorher nur von Nutzen die Rede war. Zum Zweiten gehört eine gehörige Portion Mut dazu, Irrwege einzugestehen. Und schließlich muss auf Sponsoren und Ärztekollegen Rücksicht genommen werden. Unverständlich ist jedoch, warum der Europäische Kodex dann überhaupt als Referenz herhalten muss.

Besser wäre, man hätte den Kodex beim Wort genommen. Mit immer neuen „Aufklärungs“-Kampagnen, die die Menschen nur motivieren, aber nicht informieren sollen, setzen KID, Krebsgesellschaft und Krebshilfe ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Sie täten gut daran, Krebsvorsorge endlich ebenso rational zu bewerten wie andere medizinische Maßnahmen auch – und die Menschen selbst entscheiden zu lassen, ob sie zur Vorsorge gehen wollen oder nicht. CHRISTIAN WEYMAYR