„Freier kann ich gar nicht sein“

Cornelia Bührle

„Wir haben ein hohes Explosionspotenzial in dieser Stadt. Etwa bei den russischen Jugendlichen: Spätaussiedler, bei denen die Kriminalitätsrate sehr hoch ist“

In zwei Wochen verliert Berlin eine seiner profiliertesten Kämpferinnen für die Rechte von Flüchtlingen: Die katholische Schwester Cornelia Bührle vom Orden Sacré Coeur, Migrationsbeauftragte des Erzbistums, wechselt am 1. September zum Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Brüssel – in der Hoffnung, dort Einfluss nehmen zu können auf die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU. Die Volljuristin wirkte zehn Jahre lang vor allem als Lobbyistin für die „Illegalen“ unter den Migranten und fand bundesweit Gehör. Schwester Bührle, Tochter einer Opernsängerin und eines Journalisten, sammelte Erfahrungen in aller Welt, etwa bei der Menschenrechtsarbeit im Tschad, als Anwältin in Zaire und am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Ihre Stelle im Erzbistum wird nicht wieder besetzt – wegen Geldmangels.

Interview PHILIPP GESSLER
und SUSANNE LANG

taz: Schwester Bührle, Sie haben einmal gesagt, Sie seien eine „richtige Nonne“. Was ist denn eine „richtige Nonne“?

Cornelia Bührle: Ich muss das zuweilen betonen, weil ich nicht wie eine richtige Nonne aussehe, also keinen Ordensschleier trage. Eine richtige Nonne ist eine, die die drei klassischen Gelübde abgelegt hat: Gehorsam, Armut und Keuschheit. Ich habe alles drei.

Vermissen Sie den Schleier? Ist doch hübsch.

Hängt vom Schleier ab. Für mich wäre jeder hinderlich in der Begegnung.

Schafft er zu viel Distanz?

Er ist bei mir irreführend, signalisiert oft Krankenschwester. Außerdem bin ich viel unterwegs, soll unter Leuten sein. Da werde ich häufiger zum Essen in Restaurants eingeladen. Da ist nichts schlimmer, weil es skurril wirkt wie auf einem Werbeplakat, wenn ich mit einem Schleier vor einem Weizen sitze.

Zwar nicht skurril, doch besonders ist Ihre Vita: Sie sind Volljuristin und haben Sicherheitspolitik und Afrikanistik studiert. Dann sind Sie in den Orden Sacré Coeur eingetreten. Das ist nicht unbedingt der klassische Lebensweg einer Nonne.

Entscheidend ist die Sicht des Betrachters, der das für ungewöhnlich hält, weil man nur die Krankenschwester kennt oder die Schwester in der Suppenküche.

Können Sie Ihre Berufung beschreiben? War es ein einzelnes Ereignis?

Es war gemischt. Es waren Ereignisse, die dann einen Prozess ausmachten. Das möchte ich aber ungern beschreiben. Ich habe das zwei-, dreimal getan. Es ist so etwas Kostbares. Wenn man zu viel darüber redet, verliert es irgendwann seinen Zauber. Die viel interessantere Frage als die des Eintritts ist die, warum ich geblieben bin.

Zweifeln Sie manchmal?

Doch, ich habe schon meine Krisen gehabt. Aber das darf man nicht so überhöhen. Das gibt es in Partnerschaften genauso.

Haben wir uns sagen lassen.

Ja. (lacht) Da hat man Krisen: Warum bin ich immer noch mit dem Mann oder dieser Frau zusammen? Trägt das noch? Da kann ich nicht immer nur an den Anfang zurückgehen. Von daher war ich für diese Krisen immer sehr dankbar. Ich bin da nicht in einen Gleichgültigkeitstrott reingekommen. So etwas kann ja auch passieren.

War die Tatsache, dass Sie Nonne sind, für Ihre Funktion als Migrationsbeauftragte des Erzbistums hilfreich?

Im innerkirchlichen Bereich haben es Laien immer noch grundsätzlich schwerer als Kleriker. Und unter den Laien haben es die Frauen noch schwerer. Wie in der säkularen Gesellschaft. Von ganz entscheidender Bedeutung war mein Nonne-Sein bei vielen Gesprächen mit politisch Verantwortlichen in den vergangenen zehn Jahren. Diese Politiker haben mir private Sorgen, Sorgen in der Politik sehr spontan anvertraut. Das hätten sie wahrscheinlich nicht gemacht, wenn ich nicht Ordensschwester wäre.

Man kann so mehr durchsetzen?

Nein. Ich habe da gar nicht so selten mit diesen Personen darüber gesprochen. Ich habe gesagt: „Wir haben jetzt diese persönliche Beziehung, aber über eines sollten wir uns beide klar sein: Das darf uns emotional nicht korrumpieren. Wenn ich finde, dass Sie in der Politik etwas falsch machen, werde ich Sie trotzdem öffentlich kritisieren.“ Das wurde immer akzeptiert.

Haben Sie den Eindruck, dass Sie manche Ihrer Ausbildungen nicht so nutzen können, wie Sie sie außerhalb Ihres Ordens nutzen könnten?

Außerhalb des Ordens könnte ich in der Wirtschaft beispielsweise sehr viel mehr Geld verdienen. Bis zu meinem Ordenseintritt habe ich zehn Jahre allein gelebt, in einer schönen Wohnung. Als ich das alles verschenken konnte, war ich so glücklich. Es war befreiend, nichts zu haben. Ich finde es schön, Geld auszugeben, für Geschenke vor allem. Das wäre aber kein Argument, anders zu leben.

Was verdienen Sie denn?

Das sind die festen Gestellungsverträge. Ich glaube, so etwas wie 4.200 Euro. Das hört sich viel an, aber da sind keine Sozialabgaben et cetera drin.

Aber von dem Geld sehen Sie doch nichts.

Ich bekomme alles, was ich brauche. Das Geld geht an den Orden. Das finde ich sehr schön bei uns. Alles, was wir verdienen, kommt in unseren Provinztopf – die Provinzen sind in der Regel identisch mit den Nationalstaaten. In den einzelnen Provinzen schaut eine Provinzökonomin, was die einzelnen Schwestern in der Provinz brauchen, einen neuen Kühlschrank oder so.

Haben Sie einmal überlegt, mit Ihrem Einsatz für die Migranten auch als Politikerin zu wirken?

In meiner Studienzeit habe ich das mal erwogen. Aber ein politisches Leben wäre keine ernsthafte Alternative gewesen, da ich ja jetzt viel freier bin.

Inwiefern freier?

Ich muss nicht gegen Kollegen intrigieren – was läuft denn da im Bundestag in den Fraktionen ab. Und erst unter den Fraktionen! Was für Charakterlosigkeiten! 50 Prozent der Energien gehen in diese Reibereien und Intrigen. Da bin ich doch gut dran. Keine Existenzangst, keine Gier nach Macht. Freier kann ich gar nicht sein. Meine Chefs sind mein Orden und Jesus Christus.

Sie waren Rechtsprofessorin im Tschad, zuvor kurz Schulsekretärin. Ein ganz schöner Sprung.

Unser Orden hat in N’Djamena ein Gymnasium. Dort gibt es Kontakte zur Universität in der Hauptstadt. Als dann eine Professur nicht besetzt werden konnte, kam der Dekan dieser Fakultät auf unseren Orden zu – er hat viele gefragt. Das war die Zeit vor Hissène Habré, dem Diktator. Unsere Schwestern wussten, dass Menschenrechtsarbeit eine wichtige Sache wäre, die allerdings viel zu heiß war. Ich habe sofort ja gesagt. Zudem: Als Sekretärin habe ich viel über Verwaltung gelernt, sehr hilfreich jetzt.

Wie heiß war Ihre Arbeit im Tschad?

Es war genial. Ich hatte eine Professur an der Uni mit Vorlesungen, teilweise mit über 600 Zuhörern. Durch Geld von Freunden habe ich massenhaft Abzüge der UN-Menschenrechtserklärung ziehen können: insgesamt 18.000 Kopien. Es ist mir gelungen, dass drei Menschenrechtsorganisationen gegründet wurden. Davon sind noch drei existent, und eine hat schon mehrfach internationale Auszeichnungen bekommen.

Sie haben auch die Revolution im Tschad erlebt.

Das war auch ein wenig gefährlich, da wir nicht wussten, wer diese Revolutionäre waren. Es war beeindruckend: diese Wüstensöhne, die da einzogen: zwei Meter, eine Kalaschnikow am rechten Becken, eine am linken. Unter Beschuss haben wir Nahrungsmittel in die einzige Kinik des Ortes geschafft. Wir hatten vorher Essensvorräte angesammelt und haben die durch den Kugelhagel dorthin gebracht. Da zischten die Kugeln über unseren Köpfen hinweg. (lacht)

Warum kehrten Sie so bald wieder nach Deutschland zurück?

Weil die Stelle auslief und ich eine Gelbsucht bekam. Ich musste zurück nach Europa, um noch Philosophie und Theologie zu machen, was auch gut war. Nach Ablegen der ewigen Gelübden war ich gepolt, in den Tschad zurückzukehren. Gerade die Jungs dort haben mir wahnsinnig gut gefallen – charmante Bengels.

Gucken Sie da drauf?

„Doch, ich habe schon meine Krisen gehabt. Aber das darf man nicht so überhöhen. Das gibt es in Partnerschaften genauso“

Doch, natürlich, warum nicht? Aber ernsthafter: Da gab es ja diese Hungerkatastrophen und Bürgerkriege. Deshalb betrug die Lebenserwartung 37 Jahre bei Erwachsenen. Diese charmanten Bengels hatten einen Krieg hinter sich, hatten viele Menschen umgebracht. Wenn ich denen was von Menschenrechten erzählte und davon, dass man nicht nur mit Gewalt Konflikte lösen kann, dann weinten die. Dann nahm ich sie doch in den Arm.

Hilft Ihnen diese Erfahrung auch hier bei Ihrer Arbeit?

Es ist eine sehr gute Erfahrung, eine Ausgangslage für diese Arbeit hier gewesen. Ich weiß, wie es ist, keinen Pass zu haben. In einem Savannengefängnis in Zaire habe ich gesehen, wie politische Gefangene mit Toten zusammengesperrt wurden. Wenn heute Afrikaner herkommen, ist das der Hintergrund, den wir uns gar nicht vorstellen können. Und wenn die in der Anhörung beim Asylverfahren uns anlügen, dann kann ich das natürlich nicht gutheißen. Aber ich habe selbst erlebt, dass dort die Lebenserfahrung sagt: Mit der Wahrheit kommst du nicht weiter, nur mit Lügen.

Ihre Stelle wird nicht mehr besetzt. Verliert Berlin nicht eine wichtige Stimme?

Ich habe alles so gut vorbereiten können, dass wichtige Dinge erhalten bleiben. Nur dass das, was ich bislang alleine gemacht habe, jetzt auf verschiedene Schultern verteilt wird. Es wird nur nicht mehr diese Nonne geben, was auch für die Presse immer ganz reizvoll ist, Nonne und Juristin, dann noch im Politischen, dieser kleine Kick fällt weg.

Nach zehn Jahren Erfahrung: Ist Berlin eine fremdenfreundliche Stadt?

Ich halte es nach wie vor für die momentan faszinierendste Stadt der ganzen Welt. Wo kann man denn so wie nach der Wende erleben, dass eine Stadt noch mal neu entsteht und wächst. Alles andere ist doch fertig.

Und da gehen Sie?

Na gut, ein Gärtner muss auch einmal seinen Garten verlassen. Ich habe mich übrigens immer sehr geärgert, dass Brandenburg den Makel der Fremdenfeindlichkeit hatte. Wenn ich mir nämlich die Zahlen anguckte für Berlin, dann gab es in Berlin auch ganz erheblich viele Übergriffe auf Ausländer. Nur wurden sie nicht so publicitymäßig vermarktet, sondern eher ungerechterweise unter dem Tisch gehalten. Allerdings hat Berlin größere Probleme als Fremdenfeindlichkeit.

Weshalb wird es unter dem Tisch gehalten? Weil man in Berlin ein Multikulti-Image pflegen will?

Es ist das große Verdienst von Frau John, dass es ihr gelungen ist, eine kulturell offene Atmosphäre, was die Migranten angeht, zu schaffen und zu stützen. Zukünftig darf Berlin aber nicht zu naiv sein. Wir haben ein hohes Explosionspotenzial in dieser Stadt. Etwa bei den russischen Jugendlichen: Spätaussiedler, bei denen die Kriminalitätsrate sehr hoch ist. Bei Türken oder Arabern sehe ich ein ganz hohes Konfliktpotenzial. Da braut sich was zusammen im islamistisch-fundamentalistischen Bereich.

Jesus prophezeit allen das „ewige Feuer“, die nicht Fremde und Obdachlose, wie ihn selbst, aufgenommen haben. Wie viele Deutsche, wie viele Politiker werden ins Feuer gehen?

Ich wünschte mir: kein einziger. Aber unterstellt, dass es diese Realität gibt, sieht es für manche sicher bitter aus.