Gedrückte Stimmung in Jericho

Die Oasenstadt im Jordantal, früher ein beliebtes Urlaubsziel, leidet unter der israelischen Umzingelung. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit, Armut und Kleinkriminalität. Auch das Casino ist geschlossen. Eine Gruppe von Gefangenen ist im Hungerstreik

„An Veränderung glaube ich erst, wenn die Straßensperren verschwinden“

aus Jericho ANNE PONGER

Eine Gruppe von so genannten Sicherheitshäftlingen ist am Sonntag im Gefängnis von Jericho in den Hungerstreik getreten. Die 15 Gefangenen behaupteten, man habe ihnen bei guter Führung Freigang in Jericho versprochen. Im Gefängnis von Jericho sind auch die sechs Männer inhaftiert, die von einem Schnellgericht wegen der Planung und Ausführung des Mordes an dem israelischen Tourismusministers Rechavam Seevi verurteilt wurden. Israel hatte der Palästinenserbehörde am Freitag die Übernahme eigener Sicherheitskontrollen in Jericho zugestanden. Falls keine weiteren Anschläge verübt werden, sollen die Städte Kalkilija, Ramallah und Tulkarem folgen.

Einer Fata Morgana gleich liegt die Stadt im Jordantal, eine wasserreiche, grüne Oase inmitten der staubig-gelben Wüste. Vierzig Hitzegrade lasten schwer auf dem verschlafenen Ort mit seinen 30.000 Einwohnern. Noch schwerer allerdings drücken Arbeitslosigkeit und sichtbarer Verfall in dem einst berühmten exotischen Paradies.

Vor dem Sechstagekrieg von 1967 hatten sich Araber aus dem gesamten Nahen Osten in den Wintermonaten zum Urlaub in die fast 400 Meter unter dem Meeresspiegel gelegene Stadt begeben, in der das reichlich sprudelnde Quellwasser Zitrus- und Bananenhaine, Melonen, Papaya, Dattelpalmen und Gemüse aus dem Boden zaubert. Eine Fülle schöner alter, heute leer stehender Villen mit verwilderten Gärten zeugen von verflossener Pracht.

In den Siebzigern und Mitte der Neunzigerjahre erlebte Jericho neue Blütezeiten. Nach dem Sechstagekrieg entdeckten die Israelis die Oase mit den Gartenrestaurants und Obstmärkten. Am Sabbat nach dem Bad im Toten Meer begab man sich zum Lunch oder Dinner nach Jericho, lauschte den Klängen arabischer Musik und genoss den Duft von Zitrus und Jasmin. Diese Idylle wurde durch den Ausbruch der ersten Intifada jäh beendet.

Vor Ausbruch der zweiten Intifada Ende September 2000 wurde Jericho mit dem Bau eines Casinos und eines Fünf-Sterne-Intercontinental-Hotels mit Hilfe österreichischer Investoren zur Attraktion für spielwütige Israelis. Seit Oktober 2000 sind Ein-und Ausfahrt durch israelische Straßensperren blockiert. Die Bewohner sind belagert und eingeschlossen. Nur Besucher mit ausländischen Pässen dürfen passieren.

Das Casino, das hunderten von Bürgern Arbeit bot, ist verriegelt. Das benachbarte Interconti ist geöffnet, aber nur 10 der 181 Zimmer sind belegt. „Jordanier und Ostjerusalemer kommen manchmal am Wochenende“, sagt Manager Ali Beischa. „Die Gehälter werden weiter von den österreichischen Initiatoren, der Gesellschaft Casino Austria, bezahlt.“ Mitbesitzer Martin Schlaf, Busenfreund von Ariel Scharon und dessen Söhnen, sei an einer Wiedereröffnung des Casinos interessiert und habe seinen Einfluss geltend gemacht, um die Abriegelung der Stadt aufzuheben, wird in Jericho gemunkelt.

„An Veränderung glaube ich erst, wenn die Straßensperren tatsächlich für immer verschwinden“, sagt Dschallal Hassan skeptisch. Der 52-jährige Hassan ist Rezeptionist im „Jericho Resort“, das seine Pforten im März wieder aufmachte, aber nur 20 Mitarbeiter für ein Drittel der ehemaligen Gehälter beschäftigt. Das wird durch relativ gute Belegung am Wochenende gerechtfertigt. „Die Armee wurde in der Stadt ohnehin selten gesehen, weil Jericho völlig ruhig war. Die Barrikaden sind das Problem. Es gibt keinen Tourismus, keine Arbeit, die Menschen verarmen zusehends. Die wenigen mit Arbeitserlaubnis in Israel verdienen Sklavenlöhne – nicht mehr als 30 Schekel (6 Euro) am Tag,“ sagt Hassan. „So mancher hat kaum Geld für Brot. Der Kaufkraftmangel zieht sämtliche Kleinbetriebe in Mitleidenschaft, die reihenweise schließen.“ Kürzlich erlebte Jericho erstmals eine Welle nächtlicher Einbrüche durch jugendliche Banden, für die man die wachsende Not verantwortlich macht.

Heruntergelassene Rollos gibt es mehr als offene Geschäfte, und auch dort werden nur noch Dinge des täglichen Gebrauchs – Lebensmittel, Drogerieartikel, Billigkleidung, Plastikschuhe und bescheidenes Spielzeug – angeboten. So mancher Geschäftsmann hat seine dürftige Ware auf einem Straßenkarren arrangiert, um Strom, Miete, Steuern und Telefon zu sparen.

Gruppen von Arbeitslosen hocken in armseligen Cafés ohne Klimaanlagen und nuckeln an Wasserpfeifen. Den Straßenverkehr charakterisieren neuerdings Fahrräder. „Als mein Auto zusammenbrach, hatte ich kein Geld für die Reparatur“, erklärt Schuhhändler Walid Suleiman. Da habe er sein antikes Stahlross wieder zum Einsatz gebracht. „Eine typische Geschichte“, klagt Tankstellenbesitzer Ahmed Hawasch. „Deshalb haben drei von fünf Tankstellen und etliche Werkstätten Bankrott gemacht. Aber wenn man die Stadt nicht verlassen darf, braucht man keine Autos mehr.“

In einem sind sich alle einig: die israelischen Straßensperren müssen weg, damit Jericho für Israelis und Touristenbusse wieder zugänglich und attraktiv, die natürliche Verbindung mit Jerusalem wieder hergestellt wird. Damit man seine Familien wieder durch ehrliche Arbeit ernähren kann und die Jugendlichen Perspektiven bekommen. Denn von der Außenwelt isoliert hat die steinalte Stadt keine Zukunft.