Von Urviechern und Stuhlrevolutionen

Setz dich! Das Kestner Museum in Hannover zeigt drei Jahrhunderte Kultur- und Designgeschichte des Stuhles. Hocker und Sessel fehlen in der Schau, dafür gibt es zuhauf: Freischwinger, Melkschemel, Damensättel und Angelstühlchen

Es ist der zweitschönste Aggregatzustand, den Mensch so einnehmen kann – nach dem Liegen selbstverständlich. Aber hat je jemand viel Federlesen ums Sitzen gemacht? Weil das Sichniederlassen der gehenden, stehenden oder rennenden Menschheit bislang wohl zu profan erschien, gibt es jetzt in Hannovers Kestner Museum „Setz Dich – Sit Down“, eine Ausstellung über die Kultur- und Designgeschichte des Stuhls.

Weder Hocker noch Sessel sind im gerade wegen Renovierung umgerüsteten Museum zu besichtigen – das hätte den Rahmen der Schau wohl auch gesprengt. Aber dafür sind hier mehr als 150 Stühle aus den vergangenen 300 Jahren zu begutachten, vom eher unbequemen Barockstuhl aus der Zeit um 1700 bis zum – ebenfalls eher unbequemen – CNC-gesteuert gefertigten „New Craft“-Stück.

Zu sehen ist ziemlich alles, was sitzbar ist: Stühle mit Wichtelgesichtern, Melkschemel, Damensättel, Biergartenstühle, Angelstühlchen, Sitzkissen oder Rollstühle, natürlich kann man per Treppenlift sitzend ins erste Stockwerk gelangen. Und schon der Weg vom Hauptbahnhof zum Haus von Direktor Wolfgang Schwepers ist mit Sitz-Objekten von Luigi Colani, Hans Kollhoff oder Mario Botta gepflastert.

Die Idee zur Sitzschau kam Schwepers eher so zugeflattert: „Vor zwei Jahren hat mich der Kollege aus dem Münchner Stadtmuseum angerufen und mir die Stuhlsammlung angeboten, die dort im Magazin lagerte.“ Seitdem hat er den Grundstock für „Sit down“ mit Stücken aus dem Bauhaus-Archiv oder dem Kölner Museum für angewandte Kunst modernisiert und angereichert, zum Beispiel mit den Schichtholz-Stühlen von Aalvar Alto aus den 30ern, den Plastikschalen von Verner Panton aus den 60ern und den Memphis-Stücken aus den 80ern.

Am Anfang scheint „der Stuhl“ nur zwei verleimte Bretter gewesen zu sein, in die Löcher für die Beine gebohrt wurden. Dann wurde aus der Kunst des Sitzens die Kunst, einen Sitzgegenstand zu fertigen. Zu sehen sind Carl Friedrich Schinkels klassizistisches Faltmöbel oder der Shaker-Stuhl aus dem 19. Jahrhundert – in seiner nüchternen Formgebung ein Vorläufer der Moderne.

Produktionstechnisch setzte die wohl mit dem 1859 entworfenen Klassiker von Thonet ein, dem Kaffeehausstuhl Nr. 14. Der mittels Dampf gebogene Rahmen mit Binse als Sitzfläche war das erste industriell gefertigte Sitzmöbel. Heute gibt es wohl 100 Millionen Stück des Urviechs, das demontiert nach dem Ikea-Prinzip von Thonet in Frankenberg an der Eder in alle Welt verschickt und eifrigst raubkopiert wurde.

Noch ein Klassiker, eine Stuhlrevolution: der „Freischwinger“ des Niederländers Mart Stam aus den 20ern. „Kennen sie den Stuhl von Mart Stam, der nur zwei Beine hat?“, fragte Dada Kurt Schwitters. Und: „Warum vier Beine nehmen, wenn zwei ausreichen?“ Das Bauhaus-Ding war erst durch eine Erfindung von Mannesmann möglich geworden: das nahtlos gezogene Stahlrohr. Deshalb hatte ein Student den „Freischwinger“ für Stam zunächst aus verschweißten Gasrohren gebaut. Lässiger sieht da Mies van der Rohes „Freischwinger“ aus. Sein Sitzmöbel mit Doppelschwinge ähnelt zwar einem Super-Nikolaus-Schlitten, ist aber leider völlig unbequem.

Kai Schöneberg

bis 16. November. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags, 11 - 18, mittwochs 11 - 20 Uhr