DER BAFÖG-BETRUG ZEIGT: DIE AKZEPTANZ DES SOZIALSYSTEMS SCHWINDET
: Vertrauen ist besser

Jetzt liegen neue Zahlen auf dem Tisch, und die Empörung ist mal wieder groß. Mindestens 100 Millionen Euro haben Bafög-Empfänger zu Unrecht kassiert, berichten die zuständigen Förderämter der 16 Bundesländer. Wir erinnern uns: Die Ämter schlugen vor einigen Wochen Alarm, weil zahlreiche Antragsteller über Jahre hinweg ihr Erspartes nicht angegeben hatten. Die Studenten wollten einfach nicht einsehen, dass sie für ihre Ausbildung erst einmal ihre Reservegroschen aufbrauchen sollten – bis auf einen höchst bescheidenen Freibetrag von damals 6.000 Mark.

Die Schummelei beim Bafög ist mehr als eine banale Betrugsaffäre. Sie verweist auf ein Problem, das der Akzeptanz des Sozialsystems generell zu schaffen macht. Diese Akzeptanz beruhte bisher vor allem darauf, dass jeder Beitrags- oder Steuerzahler zumindest theoretisch die Aussicht hatte, irgendwann auch selbst von diesem System zu profitieren – eventuell im Fall von Ausbildung, Arbeitslosigkeit oder Krankheit, ganz sicher aber als Rentner.

Doch diese Hoffnung entpuppt sich für die große Mehrheit der Bundesbürger zunehmend als Illusion. Die Jungen können nicht mehr hoffen, vom Staat dereinst mehr als eine Grundrente zu erhalten. Für eine Vielzahl weiterer Leistungen, vom neuen Arbeitslosengeld II bis zu den Kosten fürs Altenpflegeheim, werden die Anrechnungsregeln immer mehr verschärft. Zumindest für den durchschnittlichen Westdeutschen, der mehr als ein paar Euro auf der hohen Kante hat, bedeutet das den faktischen Wegfall jeglicher Unterstützung – jedenfalls dann, wenn er beim Ausfüllen der Antragsformulare ehrlich ist.

Besonders stark trifft dieser Effekt jene Durchschnittsverdiener, die all die verschiedenen Freigrenzen nur relativ knapp überschreiten. Nach Abzug dessen, was sie künftig selbst zahlen müssen, bleibt ihnen im Extremfall kaum mehr als den Hilfsempfängern – so empfinden sie es jedenfalls. Dieses Problem, einst als „Mittelstandsloch“ erregt diskutiert, spielt in der aktuellen Debatte erstaunlicherweise kaum eine Rolle.

Dabei täte die Politik gut daran, den Unmut ernst zu nehmen. Denn das Beispiel Bafög zeigt: Schwindet die Akzeptanz des Sozialstaats, dann werden die verärgerten Beitrags- und Steuerzahler schon Mittel und Wege finden, sich diesem System zu entziehen. Ist daraus erst ein Massenphänomen geworden, helfen verschärfte Überprüfungen nur noch bedingt. Zumal solche Kontrollen das eigentliche Gerechtigkeitsproblem nicht lösen.

RALPH BOLLMANN