„So etwas sagt man nicht“

SPD-Generalsekretär Olaf Scholz hat für seinen Vorschlag, den „demokratischen Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm zu streichen, einen Sturm der Entrüstung geerntet. Denn Sozialdemokraten können mit Lücken zwischen Theorie und Praxis leben

aus Berlin RALPH BOLLMANN

Es ist ja nicht so, dass SPD-Fraktionschef Franz Müntefering ein glühender Verfechter des Sozialismus wäre. Auch nicht des „demokratischen Sozialismus“, zu dem sich die Partei in ihrem derzeit gültigen Programm gleich sieben Mal bekennt.

Nicht aus inhaltlichen Gründen hat sich Müntefering in einem gestern veröffentlichten Interview dafür ausgesprochen, an der alten Formel festzuhalten. Nein, seine Argumente sind rein formaler Natur. „Zur Unzeit“ komme die Debatte über eine umfassende Programmrevision, die Generalsekretär Olaf Scholz angezettelt hat. Der verstaubte Sozialismusbegriff habe auch in der Vergangenheit „die Arbeit der Partei nicht behindert“.

Sozialdemokratischer geht es nicht. Ähnlich hielten es die Genossen schon vor rund hundert Jahren. Auch damals setzen sich führende Vertreter der Partei über eherne Glaubenssätze der Partei einfach hinweg, wenn sie etwa für Gesetzesvorlagen der Regierung stimmten oder ein Wahlbündnis mit den Liberalen schmiedeten – ganz so, wie der jetzige SPD-Kanzler Gerhard Schröder den Sozialstaat reformiert. Da mag die Linke kurz aufmucken, aber solche Dinge pflegt die Partei am Ende stets zu schlucken. Die Dogmen in der Praxis zu ignorieren, ist erlaubt.

Strikt verboten bleibt dagegen, sie auch in der Theorie zu tilgen. Den Scholz’schen Fehler beging einst ein aufrechter Genosse namens Eduard Bernstein, der den Widerspruch nicht mehr ertragen konnte – und verlangte, die Theorie der Praxis endlich anzupassen. Ihm hielt sein Parteifreund Ignaz Auer, praktischen Reformen durchaus zugeneigt, das eherne Grundgesetz der Sozialdemokratie entgegen: „Mein lieber Ede, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.“

Gerade Traditionssozi Müntefering weiß genau: Den schönsten Reformismus torpediert, wer gleichzeitig eine Programmdebatte vom Zaun bricht – wie jetzt Olaf Scholz. Hier hat das Wort von der „Unzeit“ seinen tieferen Sinn. In Bad Godesberg konnten die Genossen ihr Programm 1959 in aller Ruhe entrümpeln, weil sie sich mit dem schmutzigen Geschäft des Regierens gerade nicht abgeben mussten – und weil der wachsende Wohlstand im Hier und Jetzt den Bedarf an Utopien zurückgehen ließ.

Aber als Regierungspartei die laufenden Kürzungen für Kranke, Rentner oder Arbeitslose auch noch zum letzten Endzweck sozialdemokratischer Politik zu verklären, das geht dann doch zu weit. Wenn die Gegenwart schon grausam ist, dann soll die Zukunft wenigstens umso leuchtender strahlen.

Mehr als jede andere deutsche Partei hängt die SPD an Programm und Tradition. Die SPD habe allen Grund, so Müntefering, „stolz zu sein auf die eigene Geschichte und auf Begriffe, die sich damit verbinden“. Wer den „demokratischen Sozialismus“ streicht, so die kaum verschlüsselte Botschaft, der versündigt sich an den Opfern von Sozialistengesetz und NS-Diktatur.

Zur Tradition gehört freilich auch, dass sich die europäischen Schwesterparteien bereits um die vorletzte Jahrhundertwende gerne über die Bigotterie der deutschen Genossen mokierten. Der Satz des Parteitheoretikers Karl Kautsky, die SPD sei „eine revolutionäre, aber nicht eine Revolutionen machende Partei“, erinnerte für ihre Begriffe stark an die Grundhaltung der katholischen Kirche. Auch der Vatikan kann seine orthodoxen Glaubenssätze nur durchhalten, weil der Anspruch an die Übereinstimmung von Theorie und Praxis in katholischen Gegenden oft nicht sehr ausgeprägt ist.

Damals blockierte sich die SPD selbst, weil sie auf einen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems fixiert war, den sie in der Praxis eher zu verhindern suchte. Heute hat sich – „Sozialismus“ hin oder her – die Einsicht allgemein verbreitet, die der Soziologe Max Weber schon 1906 auf dem Mannheimer Parteitag gewann: „Diese Herren schrecken niemand mehr.“